I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 115

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nennt. Kein ruhiges übersichtliches Bild des zwischen gestern und
morgen pendelnden Wien — im Gegenteil, der Fremde, der diesen
Wiener Roman liest, wird uns am Ende für noch wirrer und un¬
ruhiger halten, als wir wirklich sind.
Es ist wohl ein charakteristischer Umstand, daß man die eigent¬
liche Fabel, den eigentlichen Helden dieses Romans gar nicht als das
Wichtigste empfindet, daß einem das Drum und Dran, die Einzel¬
heiten aus den politischen, literarischen und jüdischen Kreisen viel
merkwürdiger und wesentlicher erscheinen. Trotzdem ist dieser Held,
Georg Freiherr von Wergenthin, eine sehr feine und sympathische
Figur. Ein spielerisch und iräumerisch veranlagter Stimmungs¬
mensch, raffiniert, paradox und auch ziemlich egoistisch und vor allem
sehr vornehm und kultiviert. Von Beruf ist er Lebenskünstler und
dilettierender Komponist, der sich seiner Absichten und Ziele noch gar
nicht klar bewußt ist. Den Inhalt des Romans bildet es nun, wie
aus diesem Schauenden und Genießenden ein ernster Arbeitender, ein
strenger Künstler wird, und zwar auf dem bittersüßen Umweg der
Liebe zu einem sanften weiblichen Wesen, der Klavierlehrerin Anna
Rosner. Das Verhältnis zwischen diesen zwei feinen Menschen
schildert der Dichter mit einer wunderbar schlichten und lauteren
Innigkeit. Wie ein lindes und süßes Volkslied tönt diese Liebe durch
den sonst so überaus polyphonen Roman. Dann, wenn die beiden
sich dem Kinde entgegensehnen, das schließlich tot zur Welt kommt, wo¬
durch in Georg alle zärtlichen und bürgerlichen Regungen erlöschen,
da gewinnt diese Liebesgeschichte unversehens eine ergreifende Größe.
Jetzt fühlt sich Georg von Wergenthin reif zu einem ernsten Beruf,
er geht als Hofkapellmeister nach Detmold und vielleicht wird er ein¬
mal noch ein großer Künstler — die ersten Weihen, die der Ent¬
täuschung und des Schmerzes hat er bereits empfangen ...
Das ist die schlichte Fabel dieses Romans, der in den meisten
anderen Teilen fast wie ein Roman des spezifisch=jüdischen Wiens
anmutet. Dieser „Blick in die Tragikomödie des heutigen Juden¬
tums“ fördert manches Charakteristische und Bedeutsame zu Tage.
Alle Spielarten und Typen vom Jargonjuden alten Stils, bis zum
völlig vergeistigten kkeptischen Gehirnmenschen ziehen vorüber. Aber
trotz der oft verblüffenden Schilderung und manches kostbaren weisen
Wortes bleibt das Ganze doch nur Fragment und Episode, und dazu
ist das Problem schließlich zu ernst. Zu einem selbständigen „Juden¬
roman“ scheint der Dichter nicht den Mut gesunden zu haben, und
andererseits war es ihm wohl ein tiefes persönliches Bedürfnis, sich
über alle diese Dinge auszusprechen, mit sich selbst und mit den
anderen, mit der Unzahl von Fragen und Tendenzen und mit seinen
eigenen Zweifeln und Gefühlen einmal abzurechnen. Er hat dabei
nr den großen Fehler begangen, sich eine Sphäre künstlich zu kon¬
struieren, in der Aristokraten und Juden, Kavallerieoffiziere und
zialdemokraten gesellschaftlich und freundschaftlich miteinander ver¬
hren. Das gibt es in Wien nicht, was freilich für den Dichter
icht in Betracht käme und was man ihm auch nicht zum
Forwurf machen dürfte, wenn er nicht selbst die tatsächliche Wirk¬
schkeit sortwährend in seinen Dienst stellen würde. So weit es sich
kabei um Politik und andere öffentliche Gebiete handelt, ist das nur zu
ühmen, denn das fehlt ja unserem Schrifttum — dieses Interesse für
die praktischen Sorgen des Alltags. Aber leider hat sich Schnitzler
pieder allzu gemütlich und breit im Wiener Literaturkaffeehaus nie¬
Zergelassen, dessen Gestalten hier eine große Rolle spielen. „Der
1 ins Freie“ ist bald ein Judenroman, #ad ein Aristokraten= und
Literatenroman, und wenn dies auch charalieristische Elemente des
heutigen Wiens sind — ein richtiger Wiener Roman läßt sich aus
ihnen allein nicht gestalten.
Ganz eigenartig verhält es sich mit der Technik dieses Buches.
Es enthält sozusagen alle bisherigen Techniken Schnitzlers. Die von
den modernen französischen Erzählern übernommene Jungwiener Ma¬
nier, die Personen seitenlange, stumme, psychologische Monologe hal¬
ten zu lassen, was einigermaßen ermüdend wirkt und was man in
dem Werk eines reifen Erzählers lieber vermieden gesehen hätte.
An der scharfen, oft ans Krasse streifenden Charakterisierung einzelner
Figuren erkennt man den kundigen Dramatiker und im funkelnden
Dialog den berufenen Lustspieldichter, was Schnitzler leider nicht sein
will. Im ganzen ist es das bedeutsame Produkt einer gereiften Er¬
zählungskunst, die sich namentlich in dem meisterhaften ersten Kapitel
bewährt. Trotz der schweren Fracht von Problemen und Gedanken
fließt der Roman in wunderbarer Ruhe sicher dahin, und selbst dort,
wo man ihn zu breit, zu schleppend, allzu genau und gewissenhaft
empfindet, bewundert man den tiefen sittlichen Ernst, die edle dichte¬
rische Ehrlichkeit, die vielleichi den eigentlichen Wert dieses Buches
ausmachen.
Noch manches Für und Widerlße sich vorbringen, manches
beanstanden, manches rühmen, aber dieser Roman braucht wohl nicht
nach dem Leisten rezensiert zu werden, wie irgend ein Artikel des
Büchermarktes. Einer Erscheinung wie Arthur Schnitzler gegen¬
über gibt es weder Lob noch Tadel, sondern bloß ehrerbietige Auf¬
richtigkeit und eine Wertung nach weiteren Gesichtspunkten. Und da
erscheint einem dieser Roman als der verheißungsvolle Anfang einer
ernsteren und strengeren Zeit, nicht bloß für den Dichter, sondern auch
für die gesamte Wiener Literatur. Endlich ist ein
Anfang gemacht worden, an dem andere lernen und und fortsetzen
können: der Anfang einer großzügigen epischen Darstellung dieser
Stadt, die vielleicht zu reich ist an Kontrasten und Reizen, an Gefüh¬
len, Stimmungen und ähnlichen dichterischen und romanhaften Ele¬
menten, als daß ein Romandichter sie völlig bewältigen könnte.