I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 134

in der Wohnung des großbrikannischen Untertanen wissermasen ui genegeene
fing. Und so mußte von ihr, das fühlte Georg
Robert Andersen, Wassili=Ostrow, 2. Linie 9, ein
tief, auch der Abschied ohne Düsterkeit und Schwere
Einbruchsdiebstahl ausgeführt. Gestohlen wurden zwei
sein: ein Händedruck, ein Lächeln und ein stilles
Kleider und eine goldene Brosche im Gesamtwerte
„es war schön“. — Und leichter noch war ihm zu¬
von 1000 Rbl. — Im Hause Nr. 20 an der Gatschin¬
staja auf der Petersburger Seite hat die Priesters= mute geworden, als sie ihm bei der nächsten Be¬
witwe Lawrentjewa eine Wohnung inne. Sie selbst gegnung mit einfach innigem Gruß entgegenkam,
ohne die befangenen Töne anschmiegender Weh¬
wohnt noch in Luga auf der Datsche. Während ihrer
mut, oder erfüllten Schicksals, wie er sie in den
Abwesenheit konstatierte nun der Dwornik Baranow,
Worten mancher andern beben gehört hatte, die
daß die Wohnung mittelst Nachschlüssels geöffnet und
zu einem solchen Morgen nicht zum erstenmal er¬
bestohlen ist. Als Frau Lawrentjewa am 1. September
wacht war.
zurückkehrte, stellte sie fest, daß verschiedene Pelz¬

Mit der Schilderung dieser Liebesaffäre, die von
sachen, Oberkleider und Goldsachen im Gesamtwerte
seiten Georgs schon beim Eingehen auis Aus¬
von 2000 Rbl. gestohlen sind. — Aus der Wohnung
einandergehen angelegt ist — daher der Titel des
des Staatsrats Wassili Iwanow, Jamskaja 18, ha¬
Romans „der Weg ins Freie“ — ,wir sagen: mit
ben am 1. September Unbekannte mittelst Nachschlüs¬
der Schilderung dieser Liebesaffäre aber könnte
sels verschiedene Kleidungsstücke und Silbergegen¬
Schnitzler nicht einen Romanband von nahezu 500
stände im Gesamtwerte von 1000 Rbl. gestohlen.
Seiten füllen. Daher muß er die an sich zu ein¬
Der Staatsrat Popow, wohnhaft Petersburger Seite,
fache Handlung noch durch das Auftretenlassen von
Großer Prospekt 14, kehrte vor einigen Tagen von
Neben=Personen — man könnte auch sagen Neben¬
der Datsche in seine Wohnung zurück und stellte fest,
Verhältnissen, denn jeder junge Mann hat hier sein
daß Oberkleider im Gesamtwerte von 500 Rbl. ge¬
Verhältnis! — vielgestaltiger machen.
stohlen sind.
Merkwürdigerweise ist nun aber — was dem
An Infektionskrankheiten erkrankten
Buche ein ganz eigentümliches Kolorit gibt —
in der Residenz am 31. August 167 Personen (117 männ¬
Schnitzler darauf verfallen uns als Neben=Perso¬
lichen und 50 weiblichen Geschlechts), darunter 35 am
nen des Romans lauter Wiener Juden zu präsen¬
Unterleibstyphus, 4 an Febris recurrens, 4 am Scharlich,
tieren.
2 Personen an den Masern, 7 Personen an der Diph¬
Da ist der „berühmte“ Heinrich Bermann — ein
theritis, eine Person an kroupöser Lungenentzün ung.
„hagerer bartloser Mensch mit düstern Augen und
41 Personen an akutem Magen= und Darmkatarrh und
etwas zu langem, schlichten Haar, der sich in der
69 Personen an der Cholera. Die meisten Erkrankungen
letzten Zeit als Schriftsteller bekannt gemacht hatte,
en fielen auf den Alexander Newski= (29), Petersburger
und dessen Gebaren und Aussehen, man wußte
(25) und Roshdestwenfki=Stadtteil (21).
selbst nicht warum, an einen sanatischen jüdischen
Frezuenz der Kaiserlichen, Privat¬
Lehrer aus der Provinz erinnerten.“
und Sommertheater, sowie Vergnügunge¬
Dieser Bermann ist der Typus des geistreichen
lokale der Residenz. Am 30. August betrug die
Juden. Sentenzen schüttelt er sich nur
Wiener
Zahl der Besucher: im Marien Theater — 1750; im
so aus dem Aermel heraus. Da haben wir gleich
Alexandra=Theater — 1060; im Theater des Literarisch¬
„Leute, deren hauptsächliche Eigenschaft
eine:
Artistischen Vereins (Kleines Theater) —
700; im Wassili¬
es ist, schön zu sein, sind doch eigentlich viel besser
Ostrowschen Theater — 650; im Passage=Theater — 550;
dran als andere, deren hauptsächliche Eigenschaft
im Volkshause im Alexanderpark —
6069; im Sommer¬
es ist, begabt zu sein. Wenn man nämlich schön ist,
theater und Garten „Bouffes“ (Fontanka) — 3025; im
so ist man es immer, während die Begabten
Theater und Garten „Aquarium“ — 250); im Zoologi¬
doch mindestens neun Zehntel ihrer Existenz ohne
schen Garten — 4280; im Neuen Sommertheater (Bassei¬
jede Spur von Talent verbringen. Ja, gewiß ist
naja) — 690; im Eden=Theater und Garten (Swenigorod¬
es so. Die Linie des Lebens ist sozusagen reiner,
skaja) — 2720; im Taurischen Theater und Garten —
wenn man schön als wenn man ein Genie ist“
2880; im „Expreß“=Theater — 120; auf der Internatio¬
Auch über die Liebe hat Bermann, der so schön
nalen Kunstgewerbe=Ausstellung in der Michael=Manege
über die Schönheit reden kann, sein Sprüchlein
1490; auf der Internationalen Baukunst=Ausstellung
bereit. In einer Plauderei mit einer jungen Dame
in Nowaja Derewnja — 730.
Am 31. August betrug
der jüdischen Hochfinanz gibt er die folgende Weis¬
die Zihl der Besucher: im Marien Theater: tags — 1750;
heit über die Liebe zum Besten:... Offenbar
ebends — 1750; im Alexandra=Theater — 1084; im
bin ich innerlich zu rasch fertig mit den Dingen.“
Kleinen Theater: 1a#
1100; abends — 950; im
— so heißt die
„Und den Menschen,“ fügte Else
Passage Theater — 519; im Sommertheater und Garten
jüdische Jungfrau — bei.
8
„Bouffes“ — 3100; im Neuen Sommertheater — 1336;
„Mag sein. Es ist nur das Unglück, daß das
im Eren=Theater und Garten — 2145; im Volkshause
AIEN
Gesühl zuweilen an Menschen weiter hängen oleibt,
der Gäfin Panin — 700; auf der internationalen Kunst¬
während der Verstand schon längst nichts mehr mit
gewerbe=Ausstellung in der Michael Manege — 1716; auf
ihnen zu tun hat. Ein Dichter — wenn Sie mir
der Internationalen Baukunst=ausstellung in N waja
das Wort gestatten — müßte sich an jedem zurück¬
Derewnja — 720; auf dem Volksfeste im Petrowski=Park
ziehen, der für ihn keine Rätse mehr hat
24.203.

also besonders von jedem, den er liebt.“
Totenliste. (Aus den Residenzblättern)
„Es heißt doch,“ wandte Else ein, „daß wir
Olga Nikolajewna Olferjewa (31. Au ust in Ssaransk);
gerade diejenigen am wenigsten kennen, die wir
eM
Witwe eines Wirklichen Staatsrats Maria Iwanowna
lieben.“
NT
Lou zowa.
„Das stimmt nicht ganz. Wäre es wirklich so
Totenliste aus den baltischen Blättern:
liebe Else, dann wäre das Leben schöner als es
30 Aug. Katharina John, geb. Ssokolow, Dorpat.
1. Nein, diejenigen, die wir lieben, kennen wir
30. Aug. Marie Ringenberg, geb. Taube, Dorpat.
sogar besser als wir andere kennen, — nur kennen
31. Aug. Philipo Puls, Riga.
wir sie mit Scham, mit Erbitterung und mit der
30. Ang Oskar v. Petersen. in St. Petersburg.
Furcht, daß auch andere sie ebensogut kennen als
vo Voraussichtiiche Witteruna für den
wir. Lieben heißt: Angst davor haben, daß andern
3. (16.) Septemher Kalt und veränderlich im Nordwesten,
die Fehler offenbar werden, die wir an dem ge¬
Westen und-Zentrum; mäßig warm, trocken im Süd¬
liebten Wesen entdeckt haben. Lieben heißt: in die
westen — kühler an der Wolga, trocken am Ural; kühler,
Zukunft schauen können und diese Gabe verfluchen
Niederschläge im Osten und im Nordosten.
.. lieben heißt: jemanben so kennen, daß man da¬


ran zugrunde geht.“

lse lehnte am Klavier, in ihrer damenhaft¬
kindlichen Art, neugierig gelassen, und hörte ihm
Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie.
zu. Wie gut gefiel er ihr in solchen Augenblicken.
oman*).
Die hätte ihm wieder tröstend übers Haar streichen
Schnitzlers neuester Roman „der Weg ins Freie“
wollen wie damals auf dem See, als er von der
eine Art Enzyklopädie der Verhältnisse“. Wer
Liebe zu jener andern (gemeint ist eine kleine

sich also ein „Verhältnis“ „anschaffen“ will, der
Schauspielerin) wie zerrissen war. Aber wenn er
muß unbedingt den Schnitzlerschen Roman gelesen
sich dann plötzlich zurückzog, kühl trocken und wie
haben. Denn exempla docent.
ausgelöscht erschien, da fühlte sie, daß sie mit
Und an Exempeln für solche, die die Ehe meiden
ihm nie leben könnte, daß sie ihm nach ein paar
und doch die Liebe lieben, ist in dem Schnitzler n
.. mit einem spani¬
Wochen davonlaufen müßte
Roman kein Mangel.
schen Offizier oder einem Violinvirtuosen...
Da ist gleich der Hauptheld des Romans, der
Diese kleine Probe mag genügen um dem Leser
Freiherr Georg von Wergenthin, der ein so „molli¬
ad oculos zu demonstrieren, wie forciert geistreich
ges“ und ach! so
„bequemes“
es der Dichter in den Wiener jüdischen Salons zu¬
„Verhältnis“ hat,
daß einem dabei „das Wasser im Munde zusam¬
gehen läßt.
menlaufen“ könnte.
Aber auch vor Banalitäten schreckt Schnitzler nicht
zurück, wenn sie nur geistreich klingen. So wird
*) S. Fischer, Verlag, Berlin, 1908. (491 S.). von einem andern Wiener Juden, der den „schö¬