I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 145

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We
ins Freie
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mehr selbst hätten betreten können, sich vielleicht auch ihren Kindern und Kindes¬
kindern niemals erschließen würde.“ Es ist nun wieder bezeichnend, daß der eine
Anwesende, auf den diese Gefühlsargumente gar keinen Eindruck machen, Jude ist
und sich mit den Zionisten nicht im geringsten zusammengehörig fühlt: „mit den
weinenden Juden in Basel gerade so wenig, als mit den gröhlenden Alldeutschen im
österreichischen Parlament; mit jüdischen Wucherern so wenig, als mit hochadeligen
Raubrittern, mit einem zionistischen Branntweinverschänker so wenig, als mit einem
christlich=sozialen Greisler“. Er findet es phantastisch und kurzsichtig, wenn die Juden
versuchen wollten, sich drüben in Palästina ein künstliches Ghetto zu gründen, anstatt in der
Kultur ihres Vaterlandes mit all ihrem Streben aufzugehen. Aber — so überlegt
der an dem Gespräch durch schweigendes Zuhören beteiligte Nichtjude — was ist
denn das Los der nationalen Juden? Sind sie nicht „hin und hergeworfen zwischen
der Scheu, zudringlich zu erscheinen und der Erbitterung über die Zumutung,
einer frecher Ueberzahl weichen zu sollen, zwischen dem eingebornen Bewußtsein, da¬
heim zu sein, wo sie lebten und wirkten, und der Empörung, sich eben da verfolgt
und beschimpft zu sehen?“ Diese Unsicherheit, das stete Gefühl, wie in Feindesland
zu leben, als hoffnungslose Gefangene, dies Gefühl bewirkt, „daß ein Jude vor dem
andern nie wirklichen Respekt hat“. Vollends „wenn sich ein Jude in meiner Gegen¬
wart ungezogen oder lächerlich benimmt, befällt mich manchmal ein su peinliches Ge¬
fühl, daß ich vergehen möchte, in die Erde sinken“. Welche aber sind die Juden, die
von den Juden selbst gehaßt werden? „Das sind die, die vor andern und manchmal
auch vor sich selber run, als wenn sie nicht dazu gehörten; die sich in wohlfeiler und
kriecherischer Weise bei ihren Feinden und Verächtern anzubiedern suchen.“ Die bit¬
terste, schonungsloseste Frage aber ist diese: „Glauben Sie, daß es einen Christen
auf Erden gibt, und wäre es der edelste, gerechteste und treueste, einen einzigen, der
nicht in irgend einem Augenblick des Grolls, des Unmuts, des Zorns selbst gegen
seinen besten Freund, gegen seine Geliebte, gegen seine Frau, wenn sie Juden oder
jüdischer Abkunft waren, deren Judentum, innerlich wenigstens, ausgespielt hätte?“
Es ist viel in diesem Buche von der Judenfrage die Rede, manchem Leser
vielleicht zu viel. Um der Wiener Roman zu sein, wie man es wohl bereits über¬
treibend genannt hat, ist es zu sehr ein Judenroman. Es kommt kaum los von
seinem Problem, und wenn, kehrt es schleunig zu ihm zurück. Vielleicht ist sogar
sein Titel in diesem Sinne gemeint: Den Weg ins Freie zu finden, heraus aus dem
selbstgemachten unsichtbaren Ghetto, das ist „die" Judenfrage. Dieser Weg freilich
wird nicht für Alle der nämliche sein können. Für einzlne mag dieser Weg der sein,
den Leo Golowski betritt, nachdem er sein ganzes Freiwilligenjahr wegen seines
Judentums von seinem Oberleutnant gehunzt worden ist: eine öffentliche tätliche Be¬
leidigung, die den Offizier zwingt, entweder seinen Rock auszuziehen oder sich dem
verachteten Juden im Duell zu stellen. Der alte Eißler hatte einen andern gefunden:
seine Kunst, durch die er sich abschließt. Sein Sohn wieder einen anderen: „Seine Ab¬
stammung nie zu verleugnen, für jedes zweideutige Lächeln Aufklärung oder Rechen¬
schaft zu fordern.“ Der Menschheit ohne Unterschied der Rasse oder des Standes als
Arzt dienen: dies ist der Weg des alten Stauber. Als Forscher: der des jungen.
Die ihren Weg ins Freie nicht finden, das sind die Hitzköpfe mit zu starkem Rasse¬
empfinden, wie der alte Ehrenberg, die Feigen mit zu schwachem, wie der junge
Ehrenberg, die Grübler und Gefühlsanalytiker ## Heinrich Bermann.
Es ist durchaus kein Vorwurf, dies Wort: Judenroman. Wer zugibt, daß es
für ihn eine Judenfrage gibt, für den ist — sei er Jude oder nicht — Schnitzlers
Buch geschrieben. Wer es leugnet, für den erst recht, damit er das Vorhandensein
dieser Frage lerne. Schnitzler tat klug daran, uns einen Chor von Meinungen über
dies Problem vernehmen zu lassen. Man war gewohnt, ihn als kühlen, mit gelassener
Hand formenden Künstler anzusehen, und ist angenehm überrascht, wie leidenschaftlich