I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 144

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Literatur.
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und löst. Als Hintergrund Wiener gesellschaftliches Leben, besonders das gebildeter
jüdischer Kreise. Fäden laufen her und hin. Allerlei menschliche Verhältnisse werden
ins Licht gerückt: Erinnerung an einen vorbildlichen Vater; herzliches Nebeneinander¬
leben zweier Brüder, von denen jeder Art und Tun des andern achtet und in Ruhe
läßt; Konflikte zwischen alter und junger Generation in einem reichen israelitischen
Hause; ein Mädchen, schön, reich, klug, bietet sich einem Manne, der sie — aus Laune
aus Unsicherheit, aus Mißtrauen — verschmäht; ein Mann erfährt Aufregung und
Ekel des österreichischen Parlamentarismus; die Alten durchweg vornehmer, gütiger,
(fast hätt' ich geschrieben anständiger) als die Jungen; der glänzend begabte Ver¬
fasser eines erstaunlich geistreichen Buches schreibt keine Zeile mehr, und wird ein
sarkastischer, die Nichtigkeit alles Strebens durchschauender alter Mann; ein Jüngling
gibt der Brettldiva, die ihn betrügt, den Laufpaß; sie geht ins Wasser; die Klavier¬
lehrerin bekommt ein Kind von dem Komponisten; dumpfes Gefühl des jungen
Vaters von Verantwortlichkeit und Eingefügtwerden in die Kette der Lebendigen;
aber das Kind stirbt bei der Geburt. Leben zieht in langer Reihe vorüber, wechsel¬
reich, spannend, ermüdend, oberflächlich, tief und einzig, alltäglich, vieler Menschen
Leben und Schicksale, treulich erzählt, mit der Berufsneugier des Klinikers berichtet,
oft wieder nur aus einem Worte, einer Andeutung, einem Schweigen zu ahnen; aber
Leben, reich, rätselvoll und Glückes und Tränen gefüllt bis zum Rande.
Von allen Seiten wird die Judenfrage beleuchtet. Denn all die Juden dieses
Romans empfinden ihre Lage gegenüber der sie umgebenden Kultur und Unkultur
als Problem, selbst gegenüber den gemeinen Gesellen, „die sich bei den Juden an¬
fressen und schon auf der Treppe über sie zu schimpfen anfangen“. Der alte Ehren¬
berg, Zionist, möchte am liebsten bei den Gesellschaften seiner eleganten Frau aus
Trotz „im Kaftan und mit den gewissen Löckchen erscheinen“, schreibt aber dennoch,
feig genug, nicht Salomon, sondern bloß S. auf seine Tür. Sein Sohn spielt den
Feudalen und nimmt vor den Kirchen den Hut ab, weil momentan fromme Allüren
zum Kavalierston gehören. Der Alte erwischt ihn einmal dabei und haut ihm vor
Wut eine Ohrfeige herunter. Dem Jungen — er ist Reserveoffizier — bleibt nichts
übrig als sich zu erschießen. Zum Glück trifft er sich schlecht. Auch die Sichersten
der Juden scheinen ununterbrochen eine Stellung zu verteidigen. Was ist im öster¬
reichischen Parlamente das beliebteste, das wirkungsvollste Argument gegen einen
unbequemen Gegner? „Jud' halt's Maul!“ „Wo er auch hinkam, er begegnete nur
Juden, die sich schämten, daß sie Juden waren, oder solchen, die darauf stolz waren
und Angst hatten, man könnte glauben, sie schämten sich.“ Die neueste National¬
krankheit der Juden? Antisemitismus! „Wer hat die liberale Bewegung in Oesterreich
geschaffen? Die Juden! Von wem sind die Juden verraten und verlassen worden?
Von den Liberalen. Wer hat die deutschnationale Bewegung in Oesterreich geschaffen?
Die Juden. Von wem sind die Juden im Stich gelassen, was sag' ich, im Stich ge¬
lassen, bespuckt worden wie die Hund'? Von den Deutschen! Und gerade so wirds
ihnen jetzt ergehen mit dem Sozialismus und dem Kommunismus. Wenn die Suppe
erst aufgetragen ist, so jagen sie Euch vom Tisch. Das war immer so und wird
immer so sein.“ Ein Abgeordneter im Parlament gibt eine Definition von Wissen¬
schaft: „Wissenschaft ist das, was ein Jud' vom andern abschreibt". Zwei jüdische
Freunde debattieren über die wirkliche Judenfrage: „Es handelt sich in erster Linie
gar nicht um Sie und auch nicht um mich, auch nicht um die paar jüdischen Be¬
amten, die nicht avancieren, die paar jüdischen Freiwilligen, die nicht Offiziere wer¬
den, die jüdischen Dozenten, die man nicht oder verspätet zu Professoren macht.“
Der Zionismus ist Tausenden und Abertausenden Herzenssache, Lebensfrage: „Ja
alte Männer, nicht etwa ungebildete, nein, gelehrte, weise Männer hatte er (in Basel
beim Kongreß) weinen gesehen, weil sie fürchten mußten, daß das Land ihrer Väter,
das sie, auch bei Erfüllung der kühnsten zionistischen Pläne, doch keineswegs