I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 156

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fühlchen dieses Wichtes über fünfhundert Druckseiten folgen
Wien ist neben der Hofoper und dem Hofburgtheater jede
zu müssen. Weibische Wehleidigkeit!
andere Bühne doch nur ein Kunstinstitut zweiten Ranges,
Das ist's. Wien ist eine weibliche Stadt, seine Literatur,
und Hoftheater haben nun einmal allerlei Rücksichten zu
die Wienerische, ist weibisch, seine Atmosphäre ist weich, weib¬
nehmen. So ist das Gute hier wirklich des Bessern Feind
lich. Daher der Gefühlskultus in der Literatur, die Form¬
und neue Dramatiker müssen eine lange Quarantäne pas¬
grazie, und der Mangel an Männern im öffentlichen Leben.
sieren, bevor ihnen Einlaß an den Pforten der Hofbühnen
Daher freilich auch die hohe Geschmackskultur, die
gewährt wird. Sind aber die neuen Dramatiker überhaupt
einem künstlerisch empfindenden Menschen den Aufenthalt in
vorhanden? Ich sehe nur den einen Karl Schönherr, der
Wien so angenehm macht. Ja, das Leben ist hier nicht bloß
auch wirklich seinen Erfolg gehabt hat. Ich jammere also
auf banale Nützlichkeit gestellt; „ästhetische Kultur“ hat jede
nicht und genieße, was Gutes geboten wird. Das Gute ist
bessere Familie, vielleicht sogar in zu hohem Maße, und was
das Spiel und — das Publikum. In einem besseren
am wichtigsten ist, ohne viel ästhetisierendes Getue. Hier kann
Wiener Theater sitzt bei einer Première mindestens in jeder
man kaum eine Straße in den ruhigeren Vierteln passieren,
Bank ein Mensch, der wirklich etwas vom Theater, vom
ge Schnitzlers
wo nicht aus irgend einem Fenster die Klänge eines Trios
Drama, von der Kunst überhaupt versteht und so zwei, drei
ner Roman. Rüch¬
oder Quartetts klingen; die Toilette jeder Frau muß ein
Dutzend wirkliche Kunstkenner im Zuschauerraum sind ein
#ill in diesem Zu¬
kleines Kunstwerk sein; das Theater ist eine ernsthafte Ange¬
wahrer Trost für den Kunstbedürftigen, der nicht immer
schen Qualitäten
legenheit der Bevölkerung und die musikalisch=schriftstellerisch¬
allein da sitzen will mit seinen Gefühlen. Diese Kunstkenner
Mich interessiekt
schauspielerischen Talente wachsen wild ... Vielleicht rührt
brauchen gar nicht immer einer Meinung zu sein; es ist doch
Viener Sitten und
der ganze Segen daher, daß Wien und Oesterreich einmal von
immer der Mühe wert, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
des Buches aus¬
einer herzwarmen Frau, der mütterlichen Maria Theresia,
Der Worte bedarf es dabei gar nicht, ein paar Blicke genügen.
folgreicher Schrift¬
regiert worden sind.
enden Gefühle nicht
Aber man lebt auch in Wien nicht von der Kunst allein.
Und doch ist Wien als Kunststadt rückständig? Wie
doch nur die Rechte
#
Leidenschaftlicher vielleicht noch als für Musik und Theater
kommt es, daß Berlin geradezu die Börse für Theaterwerte
Alle seine Figuren,
interessiert sich der neue Wiener für alle Arten von Sport.
geworden ist und Wien fast immer hinterherhumpelt mit
e, Kaufleute, schla¬
Eine kleine Völkerwanderung ergießt sich jeden Samstag
seinen dramatischen Premièren? Ja, ist's denn auch wirk¬
aggressiv wie der
Abend ins Semmeringgebiet, auf die Rax, auf den Schnee¬
lich so? Die erfolgreichsten Bühnenwerke der letzten Jahre
Assimilationsdrang
berg. Nicht jede Stadt freilich hat ihre Zweitausender in
waren meines Wissens „Die lustige Witwe“ und der „Wa zer¬
Haben die Juden
so unmittelbarer Nähe, richtige Hochgebirgsherrschaften mit
traum", beide Wiener Provenienz. (Ich mache darauf auf¬
hrer Abstammmung
den schönsten Absturzmöglichkeiten. Eine Welt für sich sind
merksam, daß gestern wieder eine Wiener Operette aus der
fer, schwieriger als
die Auto= und Radfahrerverbände, neuerdings auch die
Taufe gehoben worden ist und zwar im Karltheater.
atent ist und nicht
Aviatiker, die in der Praterrotunde ihre vorläufig noch
Sie heißt „Johann der Zweite“, ist von Leo Stein
Ich glaube auch
verschlössene, geheime Werkstatt aufgeschlagen haben. Es ist
und Karl Lindau mit Musik von Edmund Eysler und
sogar weniger gif¬
vie#cht nicht überflüssig zu erwähnen, daß Wien einen der
behandelt den Fall, daß ein fescher Jüngling laut Testament
t. Ich kenne auch
älte
Flugtechniker beherbergt, den hohen Siebziger In¬
des amerikanischen Erbonkels zwei Monate den Kammer¬
genieure, Aerzte,
gen ur Kreß, dessen origineller Drachenflieger schon seit
diener mimen muß, um den Ernst des Lebens kennen zu
oder um ihrer Ab¬
acht Jahren fertig steht, freilich ohne geeigneten leichten
lernen, wobei er selbstverständlich eine ebenso fesche Braut
lassen und resolut
Motor. Erfindertragik — Geldmangel! Einen besonderen
ergattert. Kritik und Prognosen bezüglich des Erfolges von
unlösbare Fragen
Erfolg hatte (wie schon berichtet wurde) der Oberleutnant
Operetten lehne ich grundsätzlich ab, da ich unmöglich voraus¬
i, Fragen zu sein.
v. Corvin, der mit seinem Gleitboot mit mehr als
sagen kann, wann das liebe Publikum endlich den vertonten
zwingt, die Frage
Sechzigkilometer=Geschwindigkeit auf der Donau Budapest er¬
Stumpfsinn satt haben wird.) Aber im ernsten Drama ist
km, Beschaulichkeit,
reicht hat und dort mit Jubel empfangen worden ist. Leider
den ewigen ero¬
Berlin „führend“ War's je anders? Wien ist in Kunst¬
ist das Prinzip seines Gleitbootes nicht auf größere und
ber hinauskommen
dingen stockkonservativ. Es verlangt gar nicht das erste Wort,
schwerere Fahrzeuge zu übertragen. Ein Ozeandampfer, der
Frühjahr sich gar
es will nur überprüfen, was von allem Gebotenen ihm gemäß
sich bei der Fahrt ganz über die Flut erhebt und eigentlich
Geraunze? Sein
ist. Es braucht lange, um sich an etwas Neues zu gewöhnen,
über zusammengepreßte Luft gleitet, ist vorläufig noch nicht
erzhaft bulgär als
hält dann aber auch warm und fest. Und noch einmal: es
denkbar. Aber als niedliches Sportspielzeug und für die
aft als Trieb der
fehlt an Männern, die etwas wagen, an Autoritäten, die sich
Zwecke der Hafenpolizei, für Lotsenbote und ähnliche Fahr¬
Farbe nicht wert,
etwas erlauben dürfen. Mahler ist gegangen, Burkhard sitzt
zeuge, die höchstens ein oder zwei Menschen so schnell als
ner „Liebelei“ hat
im Schmollwinkel, Weingartner ist noch nicht warm geworden,
möglich befördern sollen, wird die kleine geistreiche Schöpfung
en gutgewaschenen
Schlenther ist geschmeidiger als der geborenste Oesterreicher
schon Verwendung finden können. Merkwürdig, es hat noch
Schöpfung malt;
und hat offenbar längst jeden künstlerischen Ehrgeiz an den
niemand gefragt, ob dieser Oberleutnant Corvin ein Deutscher
geht mir's nicht
Nagel gehängt. Es ist vielleicht ein Nachteil für Wien, daß
oder Böhme oder Magyare ist. Im Fortschritt also fin¬
in Wicht, der ein1 seine besten Theater die Hoftheater sind. In Berlin konnten
den sich alle Nationen. Sollte das nicht ein Beweis dafür
t wert ist, und es Brahm und Reinhardt fast revolutionär wirken, weil das
sein, daß nur im Sumpf der Hader gedeiht?
Gefühle und Ge= Kgl. Schauspielbaus ihnen keine Konkurrenz machte. In


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