I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 155

rei
box
ins
23. Der Weg
####r besungen schien, selber lüstig zu machen. Er

ist Reserveoffizier. Das ist österreichisch, während wiederum
das Witzeln des alten Ehrenberg — die Distanz der Jahre
muß stark betont werden — über die zionistische Bewegung
und nicht minder die auffallende Nachbarschaft von Empfin¬
dungsextremen, vom Gefühl der Rassenscham und des Rassen¬
stolzes, an die Grenzen eines bestimmten Landes sicherlich
nicht gebunden ist.
Eine bunte Fülle von Menschen führt der Dichter zusam¬
men. Anna Rosner spielt Klavier und singt; nicht zu eigenem
Vergnügen. Sie verdient sich mit der Kunst ihr Leben.
Heinrich Bermann, ein äußerst interessantes Menschenkind,
eine Delikatesse für Psychologen, ist erfolgreicher Dramatiker,
Therese Golowski eine fanatische Führerin im sozialpolitischen
Frauenkampfe. Georg von Wergenthin, ein christlicher Frei¬
herr inmitten dieser jüdischen Gesellschaft, fing selbstverständ¬
lich bei der Juristerei an, beschäftigte sich vielfach spielerisch
in allerlei Künsten und endet zögernd als Musiker und Kom¬
ponist mit der Aussicht auf einen Kapellmeisterposten in einer
kleinen deutschen Residenzstadt. Ist das etwa der Weg ins
Freie? Das wäre zum Lächeln. Ihm scheint's zwar so, und
der Dichter stört den Glauben des Idealisten nicht. Aber
darauf kam es ihm auch nicht an! Nicht das Knüpfen
neuer Netze war das Problem, sondern das Lösen alter
Fesseln, Fesseln der Geburt und des Herzens.
Die notwendigen Jours, an denen die Künstler essen und
ästhetisieren, die Frauen flirten, die Uniformen glänzen, die
bunten Scharen der Gäste durcheinanderfluten, gibt Frau
Ehrenberg mit der reizenden Tochter Else, die von zarter
Frühlingsmelancholie umflossen ein Gemisch von Herrenreiter
und Schöngeist als künftigen Gatten sich träumt. Aber der
alte Ehrenberg rückt aus! „Vor die Jours im Haus Ehren¬
berg is mir mieß,“ sagt er. Er wird nervös, wenn in der
einen Ecke ein Attache, in der andern ein Husar sitzt, auf
dem Divan einer Esprit hat, am Klavier der Autor eigene
Kompositionen spielt und Frau Oberberger ein Rendezvous
Es vermißt ihn
verabredet, „mit wem se sich trefft“
auch keiner, und die Angehörigen atmen auf, wenn er ver¬
schwindet.
Alle diese Menschen philosophieren über ihre und fremde
Welten; ihre Schicksale verknüpfen sich miteinander und lösen
sich wieder auf; und auf diesem mannigfaltig bewegten Hin¬
tergrunde heben sich die beiden Menschen Georg und Anna
unaufdringlich und doch in künstlerischer Kraft besonders
hervor, die sich ohne große Worte und Gebärden, still und
wie füreinander bestimmt, gefunden haben. Und mit der¬
selben geschmackvollen Dezenz trennen sie sich auch wieder,
ohne Pathos und Schwüre, ohne Vorwürfe und Profekte: ein
wehes, zartes Lebewohl, ein leises Abschiedsgrüßen, und das
tiefe Gefühl eines gewesenen und genossenen, unendlich reichen
Glückes
Ich mag kein Wort zum Preise dieser Schilderungen,
dieser Gespräche, dieser Kunst, Charaktere zu gestalten: kein
in dem
Wort zum Preise dieses ganzen Buches sagen,
Schnitzler nicht der zeitlose Dichter des Halbdunkels, des
„dämmernden Spiels gebrochener Farben“ ist, sondern in dem
er diese unverschämt wirkliche Welt, wie sie seinen klaren
Augen nicht entgehen konnte, resolut bei ihren Problemen
aber als Künstler!
packt und zur Darstellung bringt,
Das Buch soll selbst zu jedem sprechen, dem Zeit und
Menschen noch immer die besten Segenstände bedeuten, sich
zu regen. Nur ein paar prominente Punkte wollte ich her¬
vorheben, um den Weltausschnitt zu zeigen, dem ein Dichter
20.
warmes und wundervolles Leben verlieh.
2
Streit, Streit! Ich habe diesers Tage Schnitzlers
oder
tar
„Weg in's Freie“ gelesen. Ein Wiener Roman. Rich¬
kleines Kun
iger: ein Wiener Judenroman. Ich“will in diesem Zu¬
lege
sammenhang nicht von den literrischen Qualitäten
schaust
zieses reifsten Schnitzlerschen Buches jeden. Mich interessiert
der ga
dugenblicklich mehr die Schilderung der Wiener Sitten und
Gesinnungen, die den eigentlichen Inhalt des Buches aus¬einerh
regiert
machen. Ein so gescheiter, geachteter, erfolgreicher Schrift¬
steller wie Schnitzler kommt aus dem quälenden Gefuhle nicht
U
heraus, daß er, weil er ein Jude ist, hier doch nur die Rechte
eines Fremden von Distinktion genieße. Alle seine Figuren,
Männer wie Frauen, Dichter, Lebejünglinge, Kaufleute, schla¬
gen sich mit dem Judenbewußtsein herum, aggressiv wie der
Zionist Leo Golowski oder in fanatischem Assin ilationsdrang
wie der Reserveleutnant Oskar Ehrenberg. Ha#en die Juden
hier wirklich nichts besseres zu tun, als an ihrer Abstammmung
zu würgen? Liegt in Wien das Problem tiefer, schwieriger als
Tau
anderwärts, wo der Antisemitismus nur latent ist und nicht
Sie
die städtischen Vertretungskörper beherrscht? Ich glaube auch
das nicht. Der Wiener Antisemitismus ist sogar weniger gif¬
tig geworden, seitdem er an der Krippe sitzt. Ich kenne auch
Juden genug, Kaufleute, Arbeiter, Ingenieure, Aerzte,
dien
Schriftsteller, die sich ob ihres Judentums oder um ihrer Ab¬
stammung willen kein graues Haar wachsen lassen und resoluts tert
erg
ihrem Metier leben, — das beste Mittel, unlösbare Fragen
liegen zu lassen, ois sie von selbst aufhören, Fragen zu sein.
Was ist's denn, was Schnitzler dennoch zwingt, die Frage
immer von neuem zu wälzen? Wienertum, Beschaulichkeit,
Stimmungsjägerei. Dasselbe, was ihn an den ewigen ero¬
tischen Problemen festhält und nicht darüber hinauskommen
läßt, daß „Jungfrauen und Junggesellen im Frühjahr sich gar
geberdig stellen“. Was soll das erotische Geraunze? Sein
empfindsames Volk, das die Liebe weder herzhaft bulgär als
heitres Sinnenspiel, noch bürgerlich ernsthaft als Trieb der
Familiengründung auffassen kann, ist die Farbe nicht wert,
mit der es geschildert wird. Schon in seiner „Liebelei“ hat
mich die Zärtlichkeit gestört, mit der er den gutgewaschenen
Sc
Wiener Hausherrnsohn wie ein Bijou der Schöpfung malt;
unt
in dem weit bedeutenderen „Weg ins Freie“ geht mir's nicht Nagel
besser. Sein Georg v. Wergenthin ist ein Wicht, der ein
1 seine bes
braves Mädel wie das Annerl Rosner nicht wert ist, und es
Brahm un
ist für mich fast peinigend, dem Wechsel der Gefühle und Ge¬ Kal. Schauf
2