I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 158





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Herausgeber: Salu Geis.
6. Jahrgang.
No. 40.
Freitag, den 14. Tischri 5669 (9. Oktober 1908).
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—.—


Des Suckothfestes wegen er= Heim, in einem Heim, sondern in einer Sukkoh. wird dann eine ungestörte sein. Voll Inbrunst
Das ist gewiß kein beneidenswertes Los für ein und mit reuigem Herzen haben wir gestern in
scheint die nächste Rummer am Frei¬
lichtdurchfluteter Dämmerung und in Anwesen¬
Volk, aber auch um dieser Sukkoh willen werden
tag den 23. Oktober.
heit des ganzen Volkes und seiner Aeltesten ge¬
wir angefeindel, und diese Sukkoh, das Symbol
rufen: „L'schono haboho Biruscholojim .. .“ Möge
eines nur beschränkten, zeitlichen Aufenthalts, hat
Inhalt des Hauptblattes.
es nicht nur beim Gebet und beim frommen
uns schon mehr gekostet, als manchem Volk sein
Artikel: Sukkoth. — Unsere Jahresbilanz. —
eigenes Heim.
Wunsch allein bleiben, sondern auch beim tat¬
Aus aller Welt. — Feuilleton: Eine ver¬
kräftigen Wollen. Wer nur eine Sukkoh zu sei¬
Das Sukkothfest feiern wir im Herbst, und
sunkene Welt. — Bunte Chronik. — Wochen¬
ner Behausung hat, der soll auch ein Haus für
trüb, herbstlich gestaltete sich unser Schicksal, seit¬
Kalender. — Barmizwohs. — Familie:¬
sein Heim haben wollen: Und, wenn Ihr wollt,
dem wir die Sukkoh bezogen, in der wir schon
nachrichten.
ist es kein Märchen. —
zwei Jahrtausende hausen. Mögen wir dessen ein¬
gedenk sein, daß wir nicht nur sieben Tage
Sukkoth.
in der Sukkoh saßen, sondern, daß wir noch
Ein kalter Herbstwind durchweht die Lüfte
heute in einer Sukkoh sitzen, denn es ist kein
Unsere Jahresbilanz.
Haus, in dem wir leben, sondern eine Hütte,
und verkündet den Einzug des Herbstes. Er reißt
Rückblick auf das Jahr 5668.
die welken Blätter von den Zweigen, reißt die die uns weder vor Wetter noch vor Regen schützt.
Von Peli.
die herabgefallenen Blätter von der Erde und Wer aber nur eine Hütte zu seiner Behausung
trägt sie hoch in die Lüfte. Die Luft ist kühl hat, soll auch ein Haus, eine feste Mauer für
und abgehellt, und ein dumpfes Walten hängt sein Heim haben wollen. Wer die Befreiung
Die national=politischen und kultu¬
rellen Strömungen im Judentum.
seines Volkes feiert, soll nicht jetzt in der Fremde
über dem Herbstland. Die Sonne spendet nur
und in der Knechtschaft bleiben wollen. Und für¬
spärlich Licht, und oft ringen Nebel und Sonnen¬
Auch das innere Leben unseres Volkes im
wahr, aufs Wollen, aufs ernstliche Wollen nur
strahl um die Herrschaft des hellen oder des
abgelaufenen Jahre läßt sehr viel zu wünschen
kommt es hier an. In diesen Tagen leset Ihr
matten Lichtes. Und ein wehmütiges Herbstlied
übrig, wenn es auch nicht das düstere, trostlose
eine uralte Weisheit im ewigen Buche: „Ich
zieht durch die sterbende Natur.
Bild zeigt, wie unsere allgemeine Lage.
gebe Euch heute zwei Wege, das Leben und den
In dieser ungastlichen Jahreszeit feiern die
Ein Jahrzehnt lang, seitdem Theodor Herz!
Tod, das Gute und das Böse, und Du sollst
Juden in allen Himmelsgegenden das Sukkoth¬
eine neue Aera in der jüdischen Geschichte ein¬
das Leben wollen.“ Die Freiheit des Willens
fest. Im späten Herbst sitzen die Juden in
geleitet hatte, schien alles bei uns von dem gäh¬
ist ein altes jüdisches Moralgut und der Wille
Hütten, festlich gestimmt und festlich aufgelegt¬
renden, wogenden Prozeß der nationalen Wieder¬
in Erinnerung an ein nationales Ereignis. Es zum Leben und zum Guten ist ein uraltes jüdi= geburt erfaßt zu sein. Der souveräne Volksgeist
mag wahrlich manchmal keine besondere Freude sches Gebot. Wie sprach doch der große Jude:
der totgesagten und totgesungenen Gemeinschaft be¬
sein, bei unfreundlichem Wetter in der Sukkoh] „Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen“. Wollet
tätigte sich schöpferisch auf allen Gebieten sei¬
das Sukkothfest so feiern, daß es Euch nur an
zu feiern — in der Sukkoh zu genießen; aber
nes kulturellen und nationalpolitischen Lebens,
das jüdische Volk mit seinem großen Sinn für die große Vergangenheit, an das große Befrei¬
eine Welt in Erstaunen setzend. Es war ein Kämp¬
ungswerk erinnert, aber nicht, daß die Sukkoh
nationale Traditionen, für die Wachhaltung gro¬
fen, ein Ringen, ein Schaffen mit einem Zug
zum Symbol für unsere traurige Gegenwart wird.
ßer nationaler Begebenheiten, feiert sein Suk¬
ins Große, mit dramatischem Schwung. — Nun
Und nur dann werden wir Sukkothfreude genießen,
kothfest mit derselben Freude, mit derselben Weihe,
ist es anders gekommen. Die hochgehende Flut
wenn die Sukkoh nicht nur wehmütige Gefühle
und mit den selben Ernst, wie alle anderen natio¬
der verjüngten, schaffenden Volkskraft legte sich,
über unsere öde Gegenwart weckt.
nalen und religiösen Feste. Denn das Sukkoth¬
auf das titanische Ringen folgte eine allgemeine
fest ist nicht nur die Wachhaltung einer großen
Noch weckt in uns die Sukkoh gemischte
Abspannung, — die große Bewegung flaute merk¬
nationalen Begebenheit, sondern auch eine Er¬
Gefühle, denn die Sukkoh als ständiger Aufent=lich ab. Kein Wunder. Auch die Vsyche eines
mahnung und eine Warnung — eine Mahnung
haltsort ist kein glückliches Schicksal, und die
Volkes hat ihre Flut und Ebbe. Dies gilt in
speziell für die Juden in der Diaspora. —
Freude an einer Doppelsukkoh ist nicht rein. serhöhtem Maße von einem Volke, das überall
In Sukkoth haben unsere „Väter gewohnt, als
Und unsere Festesfreude soll eine reine sein.jin der exzeptionellen Stellung einer Minoritäts¬
sie von Egypten ausgezogen, und die Sukkoh war
„Wesomachto bechagecho“ — Du solist Dich freuenl gruppe lebt. Ein solches Volk hat immer eine
ein Uebergangsstadium von Knechtschaft zu Frei=an und mit Deinen Festen. Nun sieh': Die Wand
„doppelte Buchführung“, und zwar mit ungün¬
heit, von drückender Nachbarschaft zur selbstän=der Sukkoh ist so dünn, und draußen lauertstiger Bilanz: es lebt weniger sein eigenes, als
digen Häuslichkeit.
der Feind.
So wird die Freude und seiner Herren Nachbarn Leben. Oft, allzu oft wird
In der Fremde, noch immer in der Fremdel die feierliche Stimmung des Festes durch das es zum Spielball fremder Faktoren und Verhält¬
lebend, soll uns die Sukkoh nicht nur an eine Gefühl der Unsicherheit getrübt. Vor drei Jah¬
nisse; die fremde „Flut und Ebbe“ wirken auf
ren und noch vor zwei Jahren Sukkoth haben
glorreiche Vergangenheit, sondern auch an eine
es ein, ja die fremde „Flut“ wird ihm häufig
zur „Ebbe“, bisweilen entsteht sie erst durch diese.
öffnen. — Somit wird die Sukkoh neben ihrer bis in die Sukkoth drang der verderbende Spieß
So erging es uns mit der Flut der
nationalen und religiösen Bedeutung auch noch des Feindes, und viele haben in der Sukkoh
[russischen Revolution. Manch zarte Blüte
zu einem bedeutungsvollen politischen Symbol. Wie Zuflucht und Schutz vor Mörderhand gesucht.
der jüdischen Renaissance wurde in diesem Sturm
sitzen das ganze Jahr in Hütten und Zelten,
Und das Fest der Sukkoth soll doch ein reines,
geknickt, manch goldene Aue überschwemmt. Und
wir leben in keinem ständigen Heim, wir haben
ungetrübtes Freudenfest sein. Daher hat die Suk= noch haben wir uns von diesem elementaren Ver¬
noch nicht einmal nationale Selbständigkeit. Wir
koh für uns eine doppelte Bedeutung, die Be¬
hängnis nicht erholt. Der verwirrende Rausch des
leben seit fast zwei Jahrtausenden in Sukkoth.deutung der Erinnerungsfeier und der großen
vermeintlichen russischen Frühlings ist zwar schon
Mahnung.
Wir wandern immer, bald von Land zu Land,
vorbei, aber noch nicht der lähmende Katzen¬
bald von Pogrom zu Pogrom, und rasten nur
Mehr als neunzehn Jahrhunderte haben wirjammer. Noch ist die allgemeine Zerrüttung und
in diesem oder in jenem Land, weil wir nicht ununterbrochen in einer Sukkoh gesessen; — Zerfahrenheit nicht gewichen, noch haben wir uns
weiter können. Wir lassen uns bald hier, baldl wollen wir jetzt bestrebt sein, nur sieben Tage zu einer einheitlichen, zielbewußten, national=jüdi¬
dort nieder, aber wir sind nirgends in unseremsin der Sukkoh zu sitzen! Unsere Sukkothfreude schen Politik, zu einer tief ins Volksleben ein¬