I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 177

23. Der Neo
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Hermann Bahr: Tagebuch
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kraten, Vegetarier, Antivivisektionisten, Naturärzte, Kulturethiker und =Aesthetiker,
Frauenrechtler, sowie Weltverbesserer und Abolitionisten aller Art. Sie alle protestieren
im Namen eines Wortes oder einer Theorie oder einer Forderung, kurz eines Pro¬
gramms, eines orthodoxen Bekenntnisses gegen das ach! so heterodoxe Leben der Tat¬
sachen, der Entwicklung; sie alle wollen den Fortschritt in einer bestimmten, ihnen ver¬
nünftig erscheinenden Richtung, sie gleichen einem tollgewordenen Naturforscher, der auf
einmal selbst Naturgesetze geben möchte.
Jeder Protestant ist nicht nur sein eigener Priester, er ist ein kleiner, lieber Gott.
Die Unfehlbarkeit des Papstes ist dagegen Demut.
Tagebuch Von Hermann Bahr
10. Juni. Sehr schön ist die ruhig kreisende Bewegung, die Schnitzlers Roman hat.
Langsam steigt er auf und scheint dann in der Luft zu liegen, auf großen Flügeln. Ich
könnte das nicht. Ich möchte das vielleicht auch gar nicht. Aber es ist sehr gut, daß es
einer kann und will, und wird mir selbst durch das Sentimentalische seiner Art nicht gestört.
Dieses kommt wohl daher, daß ihm um Oesterreich leid ist. Während ich finde, daß um
dieses Oesterreich, das einem leid tun kann, nicht schade ist; jenes Oesterreich aber, das wir
lieben, haben wir in uns selbst, und es wird nur unsere Schuld sein, wenn es nicht erscheint.
Wir alle spüren die starke Zukunft, welcher die Menschen hier fähig sind. Sie brauchen
nur den Mut, die Vergangenheit abzutun, um aus ihr zu sich zu kommen. Da sind wir
nun aber dort, wo ich die Juden nicht verstehe. Sie hätten es so leicht. Ich beneide sie.
Sie haben keine verfallenen Schlösser und keine Basalte. Sie stört nicht, zu lebendiger
Zeit, unnützes Erinnern. Diese ganze rostige Kultur, mit der wir uns schleppen, in der wir,
von den Vätern her, ersticken, ist ihnen fremd. Sie hätten es so leicht: Benutzt die Gegen¬
wart mit Glück! Sie könnten uns dabei die besten Helfer sein. Uns sitzt jedem, von den
Großeltern her, noch irgendeine liebe dumme Theresianische Zärtlichkeit im Gemüt und macht uns
das Blut dick. Darin sind wir gute Deutsche, denn deutsch ist es, an nichts tiefer zu leiden als an
seiner Vergangenheit. Der Ruf des Todes ist es, der uns alles Leben hemmt. Da hätten nun die
Jnden vor uns dies voraus, daß sie nicht unsere Vergangenheit haben. Wie lang ist's
denn her, daß sie erst eingelassen wurden? Warum nützen sie das nicht aus? Warum
helfen sie uns nicht, wenn uns Erinnerung feig und kläglich macht? Wie oft muß ich mit
dem elenden Großvater hadern, der durch mein Blut spukt und mir mit seinem Dunst des
Statthaltereirats plötzlich den Verstand betäubt! Wie oft werde ich von mir wieder auf der
albernsten Rührung ertappt, bis ich mich selber am Ohr nehme: Wach auf, das bist ja gar
nicht Du, das ist schon wieder eine von den frommen Großmamas, die in Dir flennt!
Daher das verfluchte Biedermeiern, in Gedanken und Gefühlen. Wir biedermeiern ja gar
nicht, es biedermeiert in uns. Was aber biedermeiert in den Juden denn? Wir können
sie an einer Vergangenheit leiden, die sie gar nicht haben? Statt aber eben darin ihren
Stolz und den Mut zu sich selbst zu finden, züchten sie sich jetzt unsere Vergangenheit an,
was natürlich gar nicht möglich ist und sie nur lächerlich und verächtlich macht. Alle leiden