I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 178

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Hermann Bahr: Tagebuch
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wir an jenem unnützen Erinnern. Wir erkennen, daß wir genau so viel leisten und vor
der Zukunft einst gelten werden, als es uns gelingt, Vergangenheit zu vergessen und Ver¬
gongenheit vergessen zu machen. Eben das aber, was wir vergessen wollen, daran
spritzen sich die Juden jetzt ein künstliches Erinnern ein. Das lustigste Beispiel ist mir
immer die Geschichte mit dem Vaterunser, die ich so gern erzähle. Ein Jude sagte einmal,
irgend etwas sei ihm unvergeßlich. Und um den Grad der Unvergeßlichkeit recht zu beteuern,
sagte er: Unvergeßlich wie das Vaterunser! Ich stutzte. Ich versuchte das Vaterunser auf¬
zusagen. Es gelang mir nicht. Ich bin ganz fromm erzogen, meine Mutter war fast, was
man eine Betschwester nennt, und in Salzburg, wohin ich dann ins Gymnasium kam,
wurden wir sehr kirchlich gehalten. Es gelang mir aber nicht, ich fand schon den dritten
Satz nicht mehr. Nun war ich neugierig, ich fing meine Freunde zu prüsen an. Zunächst
die, welche in katholischen Klöstern erzogen sind, in Kremsmünster oder bei den Schotten.
Siehe da, sie wußten alle das Vaterunser nicht mehr. Wenn ich aber an einen Juden
kam, der wußte es. Ich habe das Experiment zuletzt noch in Berlin an unserm Tisch im
Savoy gemacht. Da ist ein Baron, den die Jesuiten in Kalisburg erzogen. Dann ist ein
Elsässer da, der einmal zu #en großen Hoffnungen der katho#. Literatur gehörte. Wir
drei versuchten nun, zusammen das Vaterunser zu buchstabieren. Es gelang uns nicht.
Aber da kam lachend Schalom Asch und half uns aus, der wußte es. Ich habe jetzt
wenigstens ein Mittel, Juden zu erkennen. Ich frage einen bloß, ob er das Vaterunser weiß.
In Schnitzlers Roman ist auch manches Beispiel dafür. Er selbst, dies spürt man
überall, er will ja mit aller Kraft heraus: von der angelogenen Vergangenheit weg und
aufs Leben los, auf unser eigenes Leben! Jene jüdische Rührung über alles, was die
Juden nicht angehi, hat er zu einer Stille, Weiche, Güte der Darstellung gezügelt, die einen
künstlerischen Reiz aus ihr macht. Freilich fühlt man ihr bisweilen seine Neigung an, weg¬
zutreten, beiseite zu stehen, nicht mitzutun, wozu Gerechtigkeit so viele von uns verführt.
Er hat eine Neigung, gekränkt zu sein, wo es vielleicht nützlicher wäre, wütend zu werden
(er kann mir allerdings antworten, daß sich Gefühle nicht kommandieren lassen). Jns
Freie kommt man freilich, wenn man weggeht. Aber ist es die Freiheit von Flüchtlingen,
die wir wollen? Wird Oesterreich frei, wenn man sich von ihm frei macht? Und an die
Kraft der stillen Arbeit, von der ihr immer sprecht, kann ich nicht mehr glauben. Still
gearbeitet wird in Oesterreich seit hundert Jahren; und es ist noch immer still.
Und noch etwas kann ich an Schnitzler nicht verstehen. Erstens teilt er den Irrrum
der Juden in Oesterreich, als ob ihr Fall ein besonderer wäre. Das ist er nicht. Sie werden
unterdrückt, gewiß. Aber es werden auch die Tschechen, die Ruthenen, die Kroaten, die
Rumänen, die Slovenen und die Italiener und so weiter unterdrückt. Der Jude hat bei
uns nicht dasselbe Recht wie irgendein deutscher Christ der herrschenden Klassen. Aber
der Arbeiter hat es auch nicht. Gar nicht zu reden davon, daß auch der Protestant, oder
wer keine Konfession hat, hinter den Rechten der Katholiken zurücksteht. Statt sich nun aber
zu den anderen Unterdrückten zu schlagen, biedern sich die Juden entweder den Mächtigen
an oder isolieren sich, ich weiß nicht, was dümmer ist. Und zweitens (was mich auch in
diesem Noman zuweilen befremdet) schädigen sich die Juden durch eine Forderung, die man
ihnen nie bewilligen wird: sie fordern Liebe. Das spüre ich in diesem Roman wieder so
stark. Die Juden sitzen da und denken traurig nach, warum man sie nicht gern hat. Aber —
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