I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 180

Der Neo
ins Frei
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23. Dans aaie
Else Lasker=Schüler: Der Fakir
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ist noch das einzige! Ich nehme dann Voitaire oder Lichtenberg her. Das ist wie ein Bad
in Verstand. Dann geht's wieder. Die meisten kennen Lichtenberg nur in Auszügen. Aber
diese Briese muß man lesen, um den merkwürdigen Menschen zu fühlen, der sich hinter
seinem Verstande versteckt.
17. Juni. Die Klerikalen haben eines Tages erklärt: Wahrmund darf in Innsbruck
nicht mehr lesen. Und jetzt sind wir so weit, daß der Minister erklärt: Wahrmund wird in
Innsbruck nicht mehr lesen.
Als die Klerikalen erklärten, daß Wahrmund in Innsbruck nicht mehr lesen darf,
erklärten die Studenten, erklärten die Rektoren und erklärten alle Liberalen dies für einen
Anschlag auf die „Freiheit der Wissenschaft“. Und der Unterrichtsminister erklärte dann,
dieser erzliberale Mann, die „Freiheit der Wissenschaft“ zu schützen.
Wie nun jetzt derselbe Minister erklärt, dieser erzliberale Mann, ja, wie er sich offiziös
nennen läßt, ein Hort, daß Wahrmund in Innsbruck nicht mehr lesen wird, erklären sich die
Rektoren für befriedigt, und auch die Liberalen erklären sich befriedigt. Was ist geschehen?
Zeit ist vergangen. Und, sagen die Rektoren, „vieles erscheint uns nun in ganz anderem
Lichte, als bisher“. Sie uns auch.
Nur die Studenten erklären noch immer, daß sie es für einen Anschlag auf die „Frei¬
heit der Wissenschaft“ erklären. Aber sie stehen jetzt ganz allein.
Es gibt in Oesterreich eine einzige bürgerliche Partei, die politisch denkt: die klerikale.
Wer ihr nicht zustimmen kann, muß sich an die Studenten und Arbeiter halten. Es war
schon einmal so: 1848.
Der Fakir /Von Else Lasker=Schüler
(Die drei Lieblingstöchter des Emirs von Afghanistan heißen Schalôme, Singäle, Liläme.
Ihre Gesichter sind wie Milch; Sklaven verscheuchen die Sonne vom Dach der Frauen
wie einen lästigen Vogel. Um die Abendstunde wandeln die drei Emirstöchter unter Tama¬
risken und Maulbeerbäumen, oder sie werden in geschnitzten Sänften zum Zeitvertreib an
Goldbasaren vorübergetragen; der Emir könnte reiche Schwiegersöhne gebrauchen. Er ist
ein Vetter meiner Mutter, aber ich bin zum ersten Male an seinen Hof geladen. Wir
Träumerinnen aus Bagdad haben von altersher schlimmen Einfluß gehabt auf die Töchter
fremder Paläste. Wir schleifen einen bösen Stern hinter uns; meint mein Großoheim, und
Schalöme, Singäle, Liläme weisen die gläsernen Spielereien zurück, die ich ihnen mitbrachte.
Aber ich weiß mich zu rächen. „Wo ist euer Oheim, Schalöme, Singäle, Liläme?“ Denn
sie schämen sich seiner Verkommenheit; ein Flecken liegt er auf dem milchweißen Hals ihrer
Mutter, der Emirsgattin. Die alte Sklavin meldet ihr vert###sch, daß der Fakir wieder
auf dem Hof stehe; ob sie ihren Bruder dudeln höre? Aus seinem Schlangensack kriecht
eine junge Viper, schleichender Schleim um seinen schmutzigen Oberkörper. Aber Singäle
wirft ihm einen Königinnentropfen, ein kleines Ehrengoldstück, mit dem Kopf ihrer Mutter
geprägt, in den Schuh, den sich der bettelnde Oheim von seinem eitrigen Fuß gezogen hat.
Singäle ärgert gerne ihre Mutter, sie hat ihre altsyrische Nase geerbt, die schon einen der
jüdischen Stämme verunglimpfte. Beschnüffeltes, übergelassenes Futter, setzt man dem
dudelnden Fakir in einem irdenen Becken der Hunde vor. Manchmal übernachtet er ge¬
sättigt zwischen den Säulen des Haremshofes auf seinem lebendigen Sack, dessen Schlangen
aufständig werden, sich zu einem Hügel bäumen, um von der Last ihres Schläfers wieder