I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 186

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Der Neg ins Freie
23.
Telephen 12801.
isterr. behördl. konz. Unternahmen für Zeitungs¬
Ausschmite
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
#2 in Berlin, Budapest, Chicago, Christiania, Gent, Kopen¬
hagen, London, Madrid, Mail and, Minneapolis, New Vork,
# Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Petersburg.
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22. NOV. 1908
vom:
Der Weg ins Freie.
Roman von Arthur Schnitzler.
Berlin 1908. Verla#
Von Schnitzler ein Roman! Das muß ja ein prächtiges Kultur¬
bild Wiens sein, denn wer kennt die Kaiserstadt an der Donau besser
als er. Und seine Mädchenköpfe werden uns mit ihren schelmischen
Angen ansehen, und mit ihnen werden wir in den Strom sprudelnden
Lebens hineingerissen? Denn wer hat diese Art Lebensgenießer
besser in seinen Novellen geschildert als der Lebenskünstler Schnitz¬
ler. Unsere Erwartungen werden allerdings auch zum Teil erfüllt,
und doch ist der Roman als Ganzes betrachtet ein mißglücktes Werk.
Von Anfang bis zum Schluß sind deutlich zwei Teile zu erkennen,
die eigentlich garnichts miteinander zu tun haben und jedesmal ge¬
waltsam zusammengebracht werden, damit es ein Ganzes gibt. Das
eine ist die Novelle von dem Baron und dem Bürgermädchen, die
anfangs zusammen musizieren, bis es dann schließlich kommt, wie
es kommen mußte, bis ein Kind geboren wird und dann die beiden
nach dem genossenen Glück ihre Hände von einander lösen auf Nim¬
menwiedersehen. Im zweiten Teil macht der Oesterreicher und Jude
Schnitzler in Form von allerhand Meditationen und Diskussionen
ich gebrauche yier mit Absicht diese Fremdwörter, um das künstlich
Gesuchte anzugeben), die er den Nebenpersonen, Juden und Jüdin¬
nen, in den Mund legt, seinem Herzen Luft. Diese Erörterunger.
lassen den gewöhnlichen Sterblichen vollkommen gleichgültig, zumal
sie immer aufs neue wiederholt werden und dasselbe bald in grüner,
buld in roter Beleuchtung zeigen. Könnte man solche Kaffeehaus¬
stimmungen aus dem Roman herauslösen, würde es einige ganz in¬
teressante Bildes aus gewissen jüdischen Kreisen geben. Denn im
Kaffeehaus und in den Gesellschaftskreisen ist Schnitzler zuhause. Mit
Kunst hat es aber wenig zu tun, denn die Personen bilden nur Staf¬
stande und über die Judenfrage. Besonders viel wird über den
Zionismus hin und her geredet. Wie dies künstlerisch zu gestalten
wäre, müßte Schnitzler bei seinem Hamburger Kollegen Huldschiner
in seinem Roman „Die stille Stadt“ nachlesen. Ebenso könnte man
aus den fast fünfhundert Seiten des Romans auf etwa fünfzig Seiten
die Novelle herauslösen. Dann hätte man eine neue, künstlerisch in¬
teressante und eigenartige Novelle Schnitzlers. Die Anna ist aller¬
dings so dunkel wie möglich gezeichnet, aber ihre Gefühle sind die
einer Stummen des Himmels“, die wenig spricht, aber umso tiefer
empfindet. Sie macht dem Liebhaber keine Schwierigkeiten und läßt
ihn seinen „Weg ins Freie“ wieder gehen, nachdem sie mit echt weib¬
lichem Gefühl oald gemerkt hat, daß er ihren Händen schon längst
entglitten ist. Ob der Herr Baron aber überall so vernünftige
Eltern und ein äußerlich so ruhiges Mädchen findet, wenn er sich
auf neue Liebesfahrten begibt? Der alte Arzt hat Recht. Man kann
noch so modern empfinden, und doch bleibt bei solchen Erlebnissen
ein gewisses Etwas in einem zurück, und es dauert lange, bis man
sich in die Wirklichkeit wieder mit einem Ruck hineingefunden hat.
Dies läßt er uns bei den Eltern und dem Mädchen nicht fühlen.
Seine ganze Kunst hat er darauf nerwendet, uns den Baron zu cha¬
rakterisieren. Das ist denn auch eine sehr interessante Studie ge¬
worden, und besonders die Untertöne, die leise mitschwingenden und
nachklingenden Gefühle, die man nie in Worte faßt und oft sich selber
nicht gesteht, sind hier von dem Seelenkenner Schnitzler fein ange¬
deutet worden. Die Gestalt des Barons steht noch lange vor unseren
Augen, wenn wir alles andere, auch die liebe Anna, vergessen haben.
Und wir können dem guten Meuschen wirklich nicht fhr Lur#
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der sich und uns so Ergreifendes bei der Geburt und dem Tode seines
Kindes sagt, wenn er im Arm der Liebe an alte Abenteuer denkt
oder auf neue sinnt. Und doch breibt es eine herzlose Kunst. Wir
möchten wohl mit dem Baron „nachtmahlen“ und sein Kaffeehaus be¬
suchen und doch nicht Arm in Arm mit ihm heruneschlendern und
ihn einen Freund nennen.
K. I.
#### Kei n uchenem


Ein Roman aus Wiener judischen und aristokratischen
sen ist Arthur Schnitzsegs „Der Weg ins
eie“ Wen es interessiert, mug hier seine Studien
machen, wie anders die Wiener Isdehschaft ist als die
Berliner und in wie manchen Dingen sie sich doch gleicht,
vorausgesetzt, daß Arthur Schnitzler, woran wir aber nicht
zweifeln, seine Stammesgenossen richtig geschildert hat. Der
Inhalt ist, wie Georg von Wergenthin von seiner Gelieb¬
ten aus kleinbürgerlichen Kreisen und von seiner eigenen
schwankenden Natur den Weg ins Freie und Selbständige
findet. Das ist sehr eingehend und umständlich mit wenig
echnischem Geschick erzählt, ohne daß wir sonderlich da¬
durch erregt würden. Im Grunde ist es uns herzlich gleich¬
gültig, wie sich das Schicksal dieses Helden entwickelt, ob
aus ihm etwas wird oder nicht. Mehr vielleicht fesselt die
Umwelt, diese Wiener Juden in ihrer Verbindung mit
dem Adel, ihre sozialen, literarischen und musikalischen Be¬
strebungen. Natürlich sind diese Leute alle erhaben über
jede Engherzigkeit auf sittlichem Gebiet, und stehen jenseits
uler Morel, und doch: alle sind eng und unfrei und laufen
wie an Ketten, und der Leser hat ein Gefühl der Befreiung,
wenn er sie glücklich auf Seite 491 alle miteinander los
hat. Und merkwürdig ist, wie wenig einem von all diesen
Geschichten und Personen schon nach ganz kurzer Zeit bleibt:
alles ist wie erstickt unter einer schweren Masse, und so ge¬
wichtig sich die Geschichte gibt, so flüchtig geht sie durch
uns hin. Das alles wird freilich nicht hindern, daß Arthur
Schnitzlers Roman von einer gewissen Art von Kritik als
eine der bedeutsamsten Erscheinungen dieses Jahres gee
priesen wird.