I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 222

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23. Der Nec ins Freie
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Nun ist dieser Roman, der sich: „ Der Weg ins Freie“
betitelt, erschienen.*) Ein echter Schnitzler und ein echtes Buch, wenn
auch nicht der Zeitroman der allgemeinen Vorstellung, keines jener
Werke, die die Welt im Sturme nehmen, aber eines von jenen, die
den stillen Leser an die Stürme der eigenen Brust erinnern, kein
Weltbild im Sinne der äußeren Vorgänge, aber eine Welt für sich,
die von den Geheimnissen unseres halbverschleierten Lebens genährt
ist, kein buntes Vielerlei, wodurch der Virtuose der Massenschilderung
die Sinne reizt, und doch ein großer Reichtum an Gestalten und
Zügen, die Leben von unserem innersten Leben sind. Manche
Leser werden das Buch enttäuscht aus der Hand legen: sie
werden nicht finden, woran sie eine große Gruppe von
Romanen gewöhnt: die endgültige Erledigung von Lebens¬
schicksalen und den Versuch, die aufgeworfenen Fragen definitiv zu
beantworten. Aber gerade darin liegt vielleicht die stärkste Eigenart
der individuellste Reiz dieses Romans. Er ist auch darin Gegen¬
wartsbuch, daß er auf jedes Definitivum und auf jede sichere Zu¬
kunftsverheißung im Schicksalszug, wie im Gedanklichen verzichtet.
Mit keuscher Enthaltsamkeit bleibt Schnitzler bei den Fragen und
Antinomien stehen, die sich aus der Natur moderner Menschen er¬
geben und ihnen durch Selbsterziehung zum Bewußtsein kommen.
Keine schulmeisternde Reflexion drängt sich dazwischen, keine be¬
ruhigende Vorhersage greift darüber hinaus. Alles ist im Fluß, das
Verhältnis der Menschen zu sich selbst und zu den Zuständen, und
alles strömt über die Grenzen der Darstellung hinaus. Der Schluß
bedeutet, näher besehen, keinen Schlußpunkt, und gedanklich werden
keine zwingenden Schlüsse aus den Aktionen und Geschicken gezogen.
Wer sich an diese Gegenwartsharaktere der Darstellung stößt, wird
unbefriedigt bleiben. Es ist ein im tieferen Sinne modernes Buch,
das einen durchaus modernen Leser verlangt.
Der Roman im engeren Wortsinn — es ist bezeichnend genug,
daß Roman und Liebesgeschichte Synonyma geworden sind — hat
keine starke Verwickelung. Es handelt sich um ein Verhältnis, das
über die „Liebelei“ hinausgeht und doch nicht zur Liebe gedeiht.
Der Mann, der es eingeht — es widerstrebt einem fast, ihn im her¬
kömmlichen Sinne den „Helden des Romans“ zu nennen, der Baron
Georg Wergenthin, ist ein liebenswürdiger Lebens= und Kunst¬
dilettant, weich, passiv, in seinen Träumereien zwischen Sinnlich¬
keit und Schaffensdrang hin und hergeworfen. Abgelöst von
älteren Moralbegriffen, vom Leben verwöhnt und ein weuig
verweichlicht, aber von den Impulsen eines inneren Adelsmenschen
„Der Weg ins Freie“, Roman von Arthur Schnitzler, Verlag
S. Fischer, Berlin.
bestimmt, gerät er aus den Umarmungen mancher Circe in Be¬
ziehung zu einem Mädchen, das ihm imponiert und Herrschaft über
das bessere Teil seiner Natur gewinnt. Diese Geliebte, Anna
Rosner, eine musikalische Künstlernatur, der der Weg zu Wirken
und Ruhm versagt ist, weil ihre Stimme für die Oeffentlichkeit
nicht auslangt, ist ein echtes Kind der Gegenwart, wie Wergenthin,
nur energischer, opfermutiger und stolzer. Tochter einer jener
Wiener Bürgerfamilien, die einem Baron nur zu weit entgegen¬
kommen, also ungehemmt durch ihre Sippe, geht sie mit vollem weib¬
lichen Stolze den Weg ihrer Herzenswahl, ohne Bedingung, ohne
Gedanken an Vorteil und ohne Rücksicht auf die Nachbarn.
Das
Paar macht ohne Hochzeit seine Hochzeitsreise nach Italien, auf der
sich Anna immer mehr in Träume und Sorgen einer jungen Ehe
hineinlebt, während Georg zwischen den Entzückungen der gemein¬
amen Wanderungen die Fesseln leicht zu fühlen beginnt und den
Regungen, auf seine Freiheit zu trotzen, nicht ganz widerstehen
kann. Dann gewinnen neue Wallungen die Oberhand. Das
Mädchen, das sich Mutter fühlt, wird in einem Landhause bei Wien
geborgen und gepflegt, um Georg schlingen sich die Bande der häus¬
lichen Idyll=; wie etwas Großes, das den Menschen in den Zug
der Generationen hineinstellt, kommt das Vatergefühl, ein Glück
und ein Naturwunder, über ihn, und, obgleich er zwischendurch auf
einer kleinen Reise ein wildes Abenteuer erlebt, wird ihm die schwere
Stunde der Geliebten doch zur eigenen Schicksalsstunde, von der er
einen neuen Lebensinhalt und die weitere Richtung seines inner¬
lichen Daseins erwartet. Aber der Verlauf der Geburt trägt ein
neues erschütterndes Problem in sich. Das Kind kommt tot zur Welt
und Georg erschauert vor dem unbefriedigten Lebensdurst, der ihn
aus den Augen des Neugeborenen anspricht. Zärtlichkeit deckt zu¬
nächst den Abgrund der gescheiterten Hoffnungen zu. Wergenthin,
der aus einem Dilettanten ein Künstler werden möchte, geht als
Kapellmeister an ein kleines deutsches Hoftheater und trennt sich von
Anna, wie von seiner Gattin. Er fühlt sich in der Fremde ge¬
hunden und, da er auf Urlaub nach Wien zurückkehrt, hofft und
glaubt er bei Anna, die wieder in ihrem Elternhause weilt, wie bei
einem Weibe daheim zu sein. Aber dieses Heimgefühl will sich
nicht einstellen, der Zwang schleicht sich in sein Betragen und das
Bewußrsein der Ueberflüssigkeit in das stolze Wesen des Mädchens,
das im eigenen Gefühl nicht fallen will. Ohne Pathos, ohne Vor¬
wurf und ohne Vorbehalt gibt Anna den Mann frei, der ihr nicht
mehr angehört, und mit einem Gemisch von Mitleid und Erlösung,
dankbar wider Willen, nimmt Wergenthin dieses letzte Geschenk des
Mädchens, das ihm alles gegeben, entgegen. Fessellos zieht er in
die Ferne mit dem Vorsatz, ein tätiger Mensch, #i# wrliche