I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 235

Freie
ins
23. Der Neg
mm
Feuilleton.
Der Weg ins Freio“
Wiener Romän von Arthur Schnitler
0Arthur Schnitzlers jünster Roman „Der
Wegins Freie“ (Berlin S. Fischer) macht
es sich zur Aufgabe, das moderne Wien in einer
bestimmten Kultursphäre lebendig und umfassend
darzustellen. Wie man weiß, trägt sich Hermann
Bahr mit einem ähnlichen, nur in einen weit
größeren Rahmen gefaßten Gedanken. Und noch
in einer anderen Hinsicht bietet der neue Roman
Schnitzlers interessante Analogien. Er stellt dus
Problem des modernen Judentums in
der Mittelpunkt seiner weitschichtigen, von zahl¬
reichen Typen der Gesellschaft belebten Erzählung.
Georg Hermann hat in seinem Roman „Jettchen
Gebert“ und dessen Fortsetzung vor kurzem das
Gleiche getan, nur daß er sich, sehr zum Vorteile
einer Dichtung, von der Gegenwart emanzipierte
und die Begebenheiten in das Berlin der Bieder¬
meierzeit zurückverlegte. Schnitzler hingegen ver¬
sucht ein buntfarbiges Gegenwartsbild, das freilich
eine beherrschende Note aufweist, die man nicht
anders als das Spezifisch=Oesterreichische bezeichnen
kann, einheitlich darzustellen, und er legt, wie
immer, den Hauptakzent auf die Psychologie des
Erlebens. Seine Kunstart gipfelt in einer roman¬
tisch=realistischen Auffassung, die er dem Leben
gegenübe bewahrt. Für ihn spielen sich die tragi¬
chen Begebenheiten nicht so ab, wie wir es in
Romanen zu lesen gewohnt sind, und doch haben
das ist die romantische Seite
seine Helden
einer Kunst — hinreichend Theaterblut in den
Adern, um sich in allen Situationen wie Komö¬
dianten des Lebens zu fühlen. Diese Art der Auf¬
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fassung gibt seinem Roman etwas Unplastisches
und Verschwimmendes, für das der darüber
wehende feine Duft der Dinge nicht hinreichend
entschädigt. In ihrer ganzen Anlage hat diese weit
ausgesponnene Erzählung von dem Liebesverhältnis
des weltmännischen, musikalisch begabten Barous
Georg v. Wergenthin mit dem jungen Mädchen
aus kleinbürgerlichem Milieu, Anna Rosner,
etwas durchaus Novellistisches. Man hat ständig
das Gefühl, daß unser Roman durch eine starke
novellistische Konzentration entschieden an Gehalt
gewonnen hätte. Freilich wäre damit für die zahl¬
reichen Diskussionen, die zumeist in das Rasse¬
problem einmünden, kein Raum gewesen. Eine
ganze Reihe gut gesehener Typen aus der besseren
jüdischen Gesellschaft, mit der unser Freiherr in
Verkehr steht, wären dadurch gleichfalls über¬
lüssig geworden. Stehen sie doch samt und sonders
im Dienste einer ethischen Tendenz, der Lösung
der gerade für Oesterreich so schwer wiegenden
Frage der völligen Gleichberechtigung des Juden¬
tums.
Eine ganze Reihe israelitischer Typen taucht
vor unsern Augen auf. Da ist der Zionist, der
national gesinnte Jude, der von der Assimilation
nichts wissen will, und sein Gegner, der sich voll¬
kommen gleichberechtigt fühlt. Da ist ferner der
reiche Handelsherr mit seinem instinktiven Haß
gegen die Unterdrücker und Verfolger seines
Stammes, dann der menschenfreundliche, bedächtig¬
kluge Arzt, der ikeptische Kritiker und endlich der
Dandy aus reichem jüdischen Hause, der aus¬
chließlich in adeligen Kreisen verkehrt und sich
so auf seine Weise „assimiliert“ Zwischen allen
diesen Parteien kommt es zu Diskussionen, bei
denen unser Baron den bloßen Zuschauer und
Zuhörer spielt, Diskussionen, die, wie alle Geistes¬
kämpfe zwischen reifen und gebildeten Menschen
damit enden, daß jeder auf seiner Meinung be¬
harrt. Der reine Arier läßt es freilich an treffen
den Bemerkungen nicht fehlen und als Leitmotiv
gilt der Satz: „Wo er auch hinkam, er be¬
gegnete nur Juden, die sich schämten, daß si
Juden waren, oder solchen, die darauf stolz warer
und Angst hatten, man könnte glauben,
si
schämten sich.“ Diese Beobachtung hat wohl etwas
Richtiges. In ihrem heutigen Stande wird die
ruhige Entwicklung der Judenfrage hauptsächlich
dadurch beeinträchtigt, daß man sie von anderen
aberwitzigen Vorurteilen losgelöst betrachtet unt
als ein Problem behandelt, was doch schließlich
ntur eine Frage der zunehmenden Zivilisation unt
auf der anderen Seite des zunehmenden Chauvi¬
nismus der Natione ist, der den Juden als
Zionismus in bedauerlicherweise in Erscheinung
getreten ist. Der Dichter, der diesen Fragen ein
so große Aufmerksamkeit schenkt, was ihm die
Bartels und Konsorten (Bartels ist sich über
Schnitzlers Konfession noch nicht ganz im Klaren)
gewiß schwer nachtragen werden, hält sich selbst
in sehr reservierter Stellung; er betont nicht ein¬
mal, daß der ganze Antisemismus dech zum
größten Teile eine Treibhauspflanze ist, die nich
elten durch die staatliche Unmoral der prämiierter
Taufe, als Entreebillet zu allerhand Aemtern unt
Würden, sehr erheblich gefördert wird. Aber davon
ganz abgesehen sind unsere Debatten ein wenig
vieux jeu und im Stile des alten Romans ein
wenig gewaltsam herbeigezogen. Der Kern unserer
zu tun, und wiederum kann es der wienerisch¬
jüdischen Gesellschaft ziemlich einerlei sein, ob
unser Baron die Anna Rosner heiratet oder, wie
er es tut, sigen läßt, um als Kapellmeister nach
Detmold zu gehen. Georg von Wergenthin, dieser
aristokratische Dilettant und Lebenskünstler, dem