I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 236

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23. Der Neg


Hente gelangten im Abgeordnetenhause
die Berichte des Wehrausschusses über die
die weiblichen Herzen ein wenig zu rasch entgegen¬
fliegen, ist im Grunde ein ziemlich farbloser
Charakter, weich, energielos, allen Stimmungen
unterworfen. Man darf sagen, daß er sich das
Leben ein wenig leicht macht, leichter als seine
Freunde und Genossen, unter denen der eine und
andere die Tragik des Daseins denn doch weit
stärker verspürt. Dabei soll nicht mit dem Dichter
gerechtet werden, ob der liebenswürdige Heer von
Wergenthin, den wir als elegante, ein wenig
suffisante Don Inan=Natur schon aus Schnitzlers
Erstling dem „Anatol“, kennen, es denn verdient,
wesentlichen Person gemacht zu werden. Vielleicht
hat es den Dichter gerade gereizt, daß solche
Charaktere an Nuancen und Zwischentönen be¬
sonders reich sind. Aber im ganzen ist nun doch
diese Wiener Gesellschaft in beträchtlichem Maße
gleichgültig. Sollte sie nicht auch dem Dichter ein
wenig indifferent erscheinen und er deshalb nicht
die nötige Wär#e für ihre Schilderung aufbringen
können? Auch) eine grausam=kühle Objektivität ist
noch besser als die wohltemperierte Haltung des
Dichters, von dem wir freilich, weil er Schnitzler
heißt, sehr viel verlangen. Möglich, daß den for¬
dernden Leser der symbolische Titel des Werkes
ein wenig irre führt. Ein „Weg ins Freie“ muß
über Irrungen und Wirrungen, gefährliche und
verschlungene Pfade, aufwärts führen zu Höhen,
die das Erlebte und Geschehene tief hinter sich
lassen. Ist aber dieses Liebesverhältnis mit seinen
Vorläufern und Nachfolgern und der kleinen
Lebensversorgung am Schlusse wirklich ein Weg,
der den Helden über sich selbst erhöht und ihn
gestärkt in den Strom eines neuen Lebens zieht?
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UNSERE HOFFNUNG
Schule bei Beerdigungen reicher Leute in Wind und Wetter mitlaufen
müssen, um „Thilim“ zu sagen. Dafür bekommt jedes der Kinder drei
Kopeken und der Verstorbene einen „hellen Gan Eden“ (Paradies). Wie
anregend und erzieherisch das auf die Kleinen wirkt, kann man sich un¬
gefähr vorstellen. Jetzt wird dieser Zustand also vielfach reformiert, sei
es von seiten intelligenter und aufgeklärter Leute, die den Kindern eine
bessere Erziehung geben wollen, sci es von manchen anderen, die haupt¬
sächlich die materiellen Einkünfte der Talmud-Thora-Schule heben wollen.
Vielerorts will man die Talmud-Thora in solche Sckulen umwandeln, in
denen die reichen Kinder Schulgeld zahlen, während die armen die Schule
unentgeltlich besuehen können. Da würde es natürlich auch aufhören mit
solchen schönen Bränchen wie „Thilim“-sagen. In Astrachan ist diese
Reiorm bereits durchgeführt, und es würe sehr zu wünschen, dass sie
auch anderwärts recht sehnell durchdringt. Die Schwierigkeiten, die von
mancher Seite vorgeschützt werden, liegen in Wahrheit nur in der Kasten¬
religion begründet, die freilich mächtiger ist, als alle anderen Re¬
ligionen.
GE
Bücherschau.
Artur Schnitzler: Der Weg ins Freie. (Berlin. S. Fischers
Verlag. 1908.)
Einen Roman aus dem Wierer Leben zu schreiben, hat Schnitz¬
1er mit diesem Werk unternommen; er hat essversucht — und mit viel
Glück und Geschick versucht — die einzelnen Typen des Wiener Gesell¬
schaftslebens im Bilde festzuhalten. Es ist natürlich, dass in einem solchen
Falle immer einzelne Bilder etwas zu skizzenhaft und miniaturartig aus¬
fallen, andere dagegen mit breitem Pinsel und starken Farben auf riesen¬
haften Flächen gemalt sind. Das muss ja sein und hängt mit der Indivi¬
dualität des Schaffenden zusammen. Zu der letztgenannten Gattung gehört
auch in diesem Romane das Bild der Wiener jjüdischen Gesellschaft, das
sehr breit, vielleicht zu breit, dargestellt ist. Sollte da der Jude Schnitz¬
ler dem Poeten Schnitzler die Feder geführt haben?
Wir wissen
es nicht. Aber jjedenfalls ist der Roman schon dadurch für uns sehr
interessant und verdient eine eine eingehende Besprechung.
Die Haupthandlung des Romans ist weder kompliziert, noch neu,
sie lässt mit wenigen orten wiedergeben:
Baron Georg v. Vergenthin liebt ein Mädchen aus besseren Bürger¬
kreisen, Anna Rosne. Zwischen beiden entspinnt sich ein Verhältnis und
Anna fühlt sich Mutter. Doch das Kind, welches die Verbindung beider
Leute zu einer dauernden hätte machen können, stirbt bei der Geburt.
So werden Georg und Anna frei, lösen das Verhältnis und Georg geht
als Kapelimeister nach Detmold, um die lang ersehnte arbeitsreiche
Musikerlaufbahn zu beginnen.
Wahrhaftig, dieser ziemlich uninteressante „Weg ins Freie“ macht
uns das Buch nicht wertvoll; etwas anderes ist es, das dem Werke
unseren Beifall zuwendet: es sind „Die Wege ins Freie“ der ein¬
zelnen Glieder dieser Wiener Gesellschaft, das heisst: die herrlichen
Schilderungen der Art, wie sich da jeder, seinem eigenen Ich ensprechend,
seinen Weg“ und dessen Ziel zurecht legt.
Das ist dem Dichter sehr gut gelungen; lächelnd verrät er uns
das Geheimnis seiner Beobachtung: „Siehst du sie alle? Jeder fasst seinen
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