I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 240

23.
ins Freie
Der
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Ne

AUs DER DICHTUNG DES LETZTEN JAHRES
Prosa viel von dem, was man fälschlich „lyrisches“
Talent zu nennen pflegt, weil es weder episch noch
dramatisch ist.
Ein neues hoffnungerweckendes Talent ist in diesem
Jahre in Österreich aufgetreten: H. K. Bartsch, dessen
frisches Hineingreifen in des Lebens Reichtum sich
schon in dem Gegenstand seines Romans „Zwolf aus
der Steiermark“ ausspricht. Sein Neuestes, „Die
Haindlkinder“, bedeutet vielleicht keinen Schritt vor¬
wärts, aber gewiß auch keinen zurück. Sein Lands
mälm Rosegger gab unter dem Titel „Alpensommer
eine Sammlung kleiner Schilderungen und Geschichten
aus der Heimat heraus, die allen Freunden des alten
Poeten willkommen sein werden. Wiener Volksleben
schildert mit verblüffender, zarte Gemüter vielleicht
hie und da verletzender Anschaulichkeit K. Adold
in seinem lose gefügten Roman „Haus No. 37“. In
höheren Sphären der österreichischen Hauptstadt be¬
wegt sich Schmitzlers „Weg ins Freie“, ein zartschat
tiertes Werk voll reichlicher Beobachtungskunst, dessen
üde hingezeichnete Linien aber den unkräftigen Dra
atiker leicht wiedererkennen lassen.
Aus der Schweiz sind drei nennenswerte Bücher zu
uns gekommen. Zunächst die graziöse, von der form
vollen Kunst Spillelers zu reichem Leben gestaltete
humoristische Erzählung „Die Mädchenfeinde“. Dann
der ernste, gehaltvolle Roman „Lukas Hochstrassers
Haus“ von Zahn, und zuletzt der München-Schwa¬
binger Künstlerroman „Laubgewind“ von 7. C. Heer.
der trotz seiner oberflächlichen und unbekümmerten
Mache — er ist wohl das Schwächste, was Heergeschrie
ben hat — schon weithin bekannt geworden ist. Unter
den Reichsdeutschen gebührt unseres Erachtens Canl
aupfmann der Vorrang. Sein zweibändiger Roman
„Einhart der Lächler“ gehört zu den wenigen Werken,
die einem Sehnen und Suchen der Zeit Gestalt ver¬
leihen, aber doch weder ins blasse Symbolisieren noch
in undichterische Schilderung geraten. Ein zwar
schwer und zuweilen etwas eilig geschriebenes, aber
nnerlich vollwertiges Werk! — Graf Kepserlings
Neuestes, der kleine Roman „Dumala“ reiht sich den
früheren Werken des Dichters ebenbürtig an, ohne
rgend etwas zu seinem Bilde hinzuzutun. Ahnlich
steht es mit Oitomar Enkings „Wie Truges seine
Mutter suchte“, einem ernsten Werke, dessen Ab
sichtlichkeit zeitweilig verstimmend wirken mag, dessen
gediegene Arbeit sich aber immer wieder Respekt er¬
zwingen wird. Timm Krögers Novellen-Sammlung
„Buch der guten Leute“ zeigt ebenfalls alle Vorzüge
dieses ruhigen, das Leben mit liebenswürdiger Zurück¬
haltung betrachtenden Dichters. Reich aus großer
Lebensbeobachtung und Kellerisch fein gestaltet sind
W. Schäfers „Anekdoten“. Jakob Wassermann trug
sich den gesamten „Kaspar Hlauser“-Stoff mit großem
Fleiß zusammen und verwertete ihn mit Treue und
Formgefühl zu einem lesbaren Zeitbild; daß er dabei an
der Sprödigkeit des seelischen Gehaltes seiner Gestalten
scheiterte, ist aber kaum zu leugnen. Der phantasievolle
Bernhard Kellermann, dessen zartgetönter Liebes- und
Scheidensroman „Ingeborg“ die Erwartungen so hoch
spannte, behandelt in seiner Erzählung „Der Tor“
zart und vielfarbig das Schicksal eines weichherzigen,
phantasieüberreichen Vikars, der seine christliche Ge¬
sinnung aus tiefer Überzeugung betätigt und die Kon¬
flikte kaum achtet, die ihm erwachsen. Rudol) Huch
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hingegen gibt in dem Romane „Die beiden Ritter¬
heim das Beste, was ihm bisher gelang, das feine
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Buch ist ein entschiedener Fortschritt. J. Schaf
„Erlhöferin“ scheint uns ein flottes „Erzählertalent“
zu erweisen, aber nicht mehr. K. B. Heinrichs
vohl autobiographischer —
Roman „Karl Asenkofer“
leidet ebenfalls darunter, daß das zu Grunde liegende
Erlehnis nicht überall künstlerisch verarbeitet ist.
Docn spricht manches in dem Buch von einer räf¬
tigen, gereiften Männlichkeit. E. G. Seeligers was
gröblicher Unterhaltungsroman „Der Schrecken ##er
Völker“ sei als Eisenbahnlektüre bester Art den
Lesern empfohlen.
Von den Frauen gab Melene Böhlau nach längerer
Zeit wieder einen Roman „Das Haus zur Flami:
heraus, der zwar ihr Wollen in bestem Lichte zeigt,
doch scheint es, als ob ihr herzhaftes Zugreifen dem
überaus zarten und schwierigen Stoff nicht ganz an¬
gemessen sei. Clara Fiebigs „Das Kreuz im Venn
ist ein recht grob und billig gearbeitetes Werk. Anna
Croissant-Rust gibt in ihrem „Winkelquartett“ ein
leiteres und lebensfröhliches Kleinstadt-Idyll, eine reife
und humorvoll überlegene Veranschaulichung eng be
grenzter Triebe und Hoffnungen. Helene Toigt-Die
derichs „Aus Kinderland“ mag das künstlerische Ge¬
stalten hie und da fehlen, ein reiches Beobachten und
sicheres Zeichnen der kleinen Welt wird die meisten
entschädigen.
Das Ausland schenkt uns dies Jahr zwei bedeu¬
tende Romane. Der kraftvolle und wahrhaft er¬
schreckend anschauliche Mfaarten Maartens, dessen
frühere Werke in Deutschland nicht überall den ver¬
lienten Erfolg fanden, greift in seinem neuesten Werke
„Die neue Religion, die Gesundheits- und Nerven¬
fexerei unserer Zeit mit den Waffen eines reichen
Geistes und einer überragenden dichterischen Kraft
an. Seine scharfe satirische Klinge führt er dabei mit
so virtuoser Geschicklichkeit, daß nirgends die Form
des wohlabgewogenen Romans durchbrochen wird.
Walter Pater, der englische Kulturdarsteller, bedient
sich der locker durchgeführten Romanform, um tiefe
Gedanken und glänzend gezeichnete Bilder aus der
geistig bewegten Zeit der Friedenskaiser in Rom dar¬
zubieten; „Marius der Epikureer“ übrigens schon
vor 30 Jahren geschrieben, ist ein Werk, das ruhiges
Lesen und besinnliches Einfühlen — auch durch seinen
schweren Stil — verlangt. Hermann Bangs „Ludwigs¬
höhe“ mit seinen weichen aber klaren Linien, mit der
wird sich auch in Deutschland ohne Zweifel weit¬
hin Anerkennung erringen. Dagegen wird es uns
nicht leicht, den Dänen bei ihrer Bewunderung in
Pontopbidans „Gelobtes Land“ zu folgen, weil wir
darin wohl wertvolle Einzelbilder genug erkennen,
aber nicht die einem klaren Leitbild nachgestaltende
Kraft. Hier scheint uns sozusagen irrtümlich ein
r „Darstellung der sozialeh und
Roman an Stelle
der Gegenwart in Dänemlark“
religiösen Ström
ansons kampfbereite, lebensfrohe
geschrieben. Au
seiner Heimat gepriesen und ge¬
Lyrik, so laut
wo das Lied im Volke noch ie
sungen werder
uns bedeutet sie kaum etwas
bendig wird
is neuester Roman „Die Mutter“
Wesentliches.
ontoppidans Werke an Überfülle
Stoffes, — der noch dazu in
les unverar