I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 242

ins Freie
23. Der Neg


Bbrscheitn, 00
und politischer Behörden, polizeiliche und richterliche
Uebergriffe oder Nachlässigkeiten.
Feuilleton.
Ein anderer viel genannter Wiener Dichter,
Arthur Schnitzler, der Verfasser der „Liebelei“,
ointierter
„Freiwild“ und zahlreicher fein und pikant
in einem
Dramen und Novellen hat sich zum erstenmal
größern Roman versucht, den er betitelt hat „Der
Wegins Freie*)“ Mir scheint, dieser Titel sei,
wie die Handlung, die er bezeichnen soll, nur ein Vor¬
wand, um den Haupt=, d. h. den eigentliche egen¬
die
*
stand des Romans etwas zu verhüllen.
sthin
Liebe des adeligen Komponisten Georg von
ns
zu Anna Rosner, aus der der Liebhaber de.
Freie findet, obschon sein Verhältnis zu der schönen ##.¬
großmütigen Geliebten nicht ohne Folgen geblieben, bil¬
det, wenn sie auch von den verschiedenen Liebesgeschichten
im Roman den breitesten Raum einnimmt, nicht die Haupt¬
sache. Sie bildet als zusammenhängendste und deshall
hervorstechendste Handlung vielmehr nur den Faden, an
dem der Dichter die zahlreichen Charaktere und Szenen
aufreiht, die ihm Gelegenheit geben, auf unauffällig
Art zur Sprache zu bringen, was ihm die Haupt¬
sache ist und auch im Roman als silche erscheint,
so
geschickt er dies verbergen will. Un' das ist die Er¬
bitterung und Verbitterung über die Stellung der
Juden speziell in der Wiener und österreichischen, anti¬
semilisch fühlenden Gesellschaft. Dafür nur einige Be¬
lege. Sehr bald heißt es von dem Helden, wenn man
überhaupt von einem solchen sprechen darf: „Wo er
*) S. Fischer, Verlag, Berlin 1908.
box 3/2
lichen Fragen selbständig Stellung, soweit
möglich im Einklang mit der freisinnigen und
auch hinkam, er begegnete nur Juden, die sich schämten,
daß sie Juden waren, oder solchen, die darauf stolz
waren und Angst hatten, man könnte glauben, sie
chämten sich.“ Von dem alten Millionär Ehrenberg,
der sagt, „ich schwör Ihnen, die Hälfte von meinem
Vermögen gäb ich her, wenn ich die ärgsten von unsern
Feinden am Galgen säh“ sagt seine Frau: „Ueberall
sieht er Antisemiten, selbst in der eigenen Familie.
Worauf der alte feine jüdische Schriftsteller Nürnberger
agt: „Das ist die wüste Nationalkrankheit der Juden.
Mir selbst ist es bisher erst gelungen, einen einzigen
echten Antisemiten kennen zu lernen. Ich kann es
Ihnen leider nicht verhehlen, daß er ein bekannter
Zionistenführer war.“ Trotzdem wiederholen sich die
Klagen über ungerechte Behandlung der Juden durch
den ganzen Roman hindurch in allen Variationen.
Der Schriftsteller Bermann entschuldigt sich dafür, daß
er den Fehlern der Juden gegenüber besonders empfind¬
lich ist, mit den Worten: ... Es verbittert einen
eben, daß man immer wieder für die Fehler von andern
mitverantwortlich gemacht wird, daß man für jedes
Verbrechen, für jede Geschmacklosigkeit, für jede Un¬
vorsichtigkeit, die sich irgend ein Jude auf der Welt
zu schulden kommen läßt, mitzubüßen hat.“ Natürlich
gelangt auch der Haß gegen die Feinde wiederholt
kräftig zum Ausdruck. Von einem christlichen Radfahrer¬
klub sagt eine der jüdischen Personen des Romanst
Gräßliches Volk . . . . Und solche Kerle bilden sich
dann noch ein, daß sie da eher zu Hause sind als
unsereiner“. Und sehr richtig sagt der gleiche Sprecher:
Mein Instinkt ist mir mindestens ebenso maßgebend
wie der der (antisemitischen) Herren Jalendek junior
und senior, und dieser Instinkt sagt mir untrüglich,
Komttnation ii Seetand wird ader nur einer
einzigen noch Bedeutung beizulegen sein. Im
daß hier, gerade hier meine Heimat ist und nicht in
rgend einem Land, das ich nicht kenne, das mir nach
den Schilderungen nicht im geringsten zusagt und das
nir gewisse Leute jetzt als Vaterland einreden wollen
mit der Begründung, daß meine Urahnen vor einigen
tausend Jahren gerade von dort aus in die Welt ver¬
streut worden sind. Wozu noch zu bemerken wäre, daß
die Urahnen des Herrn Jaleudek, und selbst die unseres
Freundes, des Freiherrn von Wergenthin, gerade so
wenig hier zu Hause gewesen sind, als die meinen und
die Ihrigen.“
Ganze Seiten hindurch wird debattiert über den
Zionismus und dessen Basler Kongreß. Daß der Stand¬
punkt des Verfassers auch bei der Verteilung von
Licht und Schatten in der Handlung und der Charak¬
terzeichnung der Personen zur Geltung gekommen ist,
raucht wohl kaum gesagt zu werden. Den zahlreichen,
zum Teil ganz prächtigen, zum mindesten geistreichen
oder interessanten jüdischen Personen stehen auf der
indern Seiie eigentlich nur Georg von Wergenthin
— sein Bruder spielt eine zu geringe Rolle, um in
Betracht zu fallen — und seine Braut gegenüber.
Und welch kraftloser Aesthet ist dieser Held, halb
Dilettant, halb Künstler und auch in der Liebe vor¬
wiegend Aesthet und deshalb schwächlich. Was ist das
im Grunde für eine Gesellschaft, deren eigentliches
Lebenselement der Flirt ist, die es so selbstverständlich
findet, daß die verliebten Paare aus guten Familien
ür einige Wochen auf eine Hochzeitsreise und dann
wieder auseinandergehen. So groß die Rolle ist, die
die Liebe spielt, so ist diese doch stets nur sinnlicher
Natur, sonst würden die Männer und Frauen nicht
immer wie Gummibälle einander zu= und wieder von¬