I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 306

23. Der Neg ins Freie



Der Weg ins Freie.
Der Titel des neuen Schnitzserlchen Romans
ist
licht ohne tendenzi. Der
W# ins Freie. Unwillkürlich denkt man, bevor
man noch das dickleibige Buch zur Hand nimmt,
an allerhand soziale und ethische Fragen. Arthur
Schnitzler hat es ja eine Zeit lang geliebt, den
Raisonneur zu spielen, so recht im Sinne von
bereits vergessenen französischen Tendenzlern, und
viele seiner Stücke legen heute noch Zeugns ab
von dieser seiner Neigung, das Freiwild z. B.
oder Fer Ruf des Lebens. Selbst der alte Weiring
in def Liebelei, diese so prächtig geschaute und
lie#voll gezeichnete echt Schnitzlersche Figur be¬
kommt im dritten Akt dieses uns ven allen
Ichnitzlerschen Dramen am Herzen liegendsten
Stückes tendenzlerische Anwandlungen, wenn er
über das Schicksal seiner heißgeliebten Christine
spricht. Die Sorge um den Weg ins Freie war
überstüssig. Der Künstler Schnitzler scheint den
Hang zum Raisonnieren zu seinem Heil überwün¬
den zu haben. Gewiß befaßt er sich auch in seinem
neuesten Werke mit den Fragen des Alltags, mit
Fragen sozialer und ethischer Natür, sogar mit
einer der heikelsten Fragen unserer Zeit, der
Judenfrage. Aber der Dichter Schnitzler steht
über seinem Werke. Er ergreift nicht Partei,
weder für noch gegen, er läßt den Leser selbst
Stellung nehmen, zwingt ihn nicht, drängt sich
hme nicht auf.

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Das ist das Schöne, echt künstlerische an
Schnitzkers neuem Buche Eine wundervolle Me¬
lancholie ist darüber gebreitet, eine Stimmung,
die in ihrer Wärme und Weichheit den Leser, der
sich anschickt, das Buch mitzuerleben, wohlig um¬
fängt. Der wundersame Mall=Akkord, den Schnitz¬
ler gleich in Beginn auschlag, wird festgehalten
bis zum Schluß. Eigentlich ist es nur die Ge¬
schichte eines simplen Liebesverhältnisses, die der
D##ter mittenik Das Milieu, aus dem dieser
„Ag ins reie“ hinausführt ist Wien. Natürlich
###t die große, laut lärmende, imnter weiter um
chgreifende, sich mächtig entwickelnde Stadt,
sondern das literarisch=getthelische, ftille, trau¬
liche, manchmal auchem woenig dumpfe Wien,
das man noch vor in paar Jahren als Jung¬
Wien zu bezeichnen liebte. Allein die Jung¬
Wiener Dichter, die einst im Sturm und Drang
von den Fenstern des Café Griensteickl aus, die
Welt aus den Augeln heben wollten, sind älter,
ruhiger und bedächtiger geworden. Sie brin¬
gen auch nicht mehr ihre Zeit im Café zu, son¬
dern lieben vielmehr den Aufenthalt in den Sa¬
lons der schöngeistigen Aristokratie oder in jenen
der mehr suobistischen jüdischen Plutokratie. Sie
selbst haben sich in die Winkel am Saum der
Stadt, in die Gegend von Salmansdorf, Neu¬
waldegg und Grinzing zurückgezogen, wo sie in
Ruhe und Behaglichkeit ihrem künstlerischen
Schaffen nachhängen. In diesen Zonen spielt
Schnitzlers Roman, in dieser Atmosphäre leben
seine Menschen. Die Stadt und ihre Leute hat
er schon oft geschildert, bald in knappen, manch¬
mal ganz unheimlich straffen Skizzen, bald auf
dem Theater, bald im Roman. Aber nie mit
solcher Liebe, Wärme und Ausführlichkeit.
Schnitzlers Kunst, seine Menschen sozusagen von
innen und außen zugleich zu zeigen, hat hier eine
Vollkommenheit erreicht, wie rie zuvor.
Der neue Roman hat im Grunde nur wenig
Handlung. Eine Liebesgeschichte oder vielmehr
die Geschichte einer Liebe. Zwei Manschenkinder
finden einander. Er ist ein dilettierender Ari¬
stokrat, Mufiker sie eine junge Dame aus der
bürgerlichen Gesellschaft. Der Vermögensunter¬
schied schließt nach seiner Anschauung die Ehe
aus, aber sie kümmern sich wenig um Herkommen
und Konvention und finden ihr Glück in einer
freien Ehe. Glück? Das Verhältnis bleiht nicht
ohne Folgen. Anna Rosner ist guter Höffnung.
Das kommende Kind scheidet die beiden. Es bringt
hnen die Erkenntnis, daß sie doch nicht zu ein¬
ander gehören. So aufrichtig ihre gegenseitige
Zuneigung ist, über sich selbst waren sie doch im
inklaren. Eine latente Schauder verhinderte die
Aussprache, aber auch Konstikte. Das Kind kommt
tot zur Melt Auch über diesee schmerzliche Er¬
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eignis verlieren sie keine Worte. Man rührt
nicht gerne an Wunden. Georg von Wagenthin
indet draußen im Reiche eine Stellung als
Kapellmeister. Das Paar geht auseinander. Sie
schreihen sich. Aber in den Briefen stehen gleich¬
gültige Dinge. Immer mehr entpuppt sich der
Musiker, als Halbmensch, als Kompromißuatur.
Anna Rooner als der gefestigte, gereifte Char¬
##ter. Es treiht den jungen Mann zurück in
die Arme der Geliebten. Sie aber ist im Laufe
er Zeit zur Erkenntnis gekommen, daß sie beide
den Weg ins Freie finden müssen, daß alles zwi¬
chen ihnen aus zu sein hat, für sie ist der
Mann, welcher sie das Leben gelehrt hat, nun¬
mehr Ballast und ihm kann sie kaum mehr sein
als eine auf die Dauer lästige Fessel. Sie schei¬
den ohne Groll, ohne Katastrophe.

Soweit wäre der Weg ins Freie ein rein
lyrischer Roman. Er erhält erst den sozialen
Anstrich durch die Schilderung der Umgebung, n
welcher Georg von Wagenstein und seine Be¬
liebterleben. Es ist, wie schon gesagt, das küne
terische Wien. Die Wiener Gesellschaft von heute.
Sie ist ungemein wahrheitsgetren geschildert.
Mon glaubt fast, die einzelnen Persönlichkeiten zu
erkennen. Und doch vermeidet Schnitzler
Kliope des Schlüsselromans. Gewiß ist manche
prononzierie Persönlichkeit Modell gestanden. Ab
es sind nur einzelne pro
ierte Züge, die ent¬
liehen wurden und nicht ganze Porträts. Da ist
Heinrich Beermann, der Dichter. Er dient als
Gegenstück Georgs.
nde und doch
stoßen sie die starken Gegensätze ihrer Naturen
wie Rassenverschiedenheit,
r und Begabung
von eihander ab.
h als eine
uaive Künstlernatur geschildert, die nur aus
Mangel an Initiati
#ltung ge¬
langt. Auch der
nsta
seine
Begabung, die ungleich größer ist, in künstlerische
Tat umzusetzen.
die Zwossel des
chopenhauxisierenden
hm fehlt der
Glaube an sich selb
elleicht auchtan ein
von ihm zu vollbring
Dief
Heinrich
Beermann ist ein Typ
für diese Spezies die
sche Bezeichnung
„Kaffeehausliterat“ g
Dunstkreis
seiner Atmosphäre lastet an
Er hattden
Weg ins Freie längst zu
aufgegeben Auch
er hat eine Geliebte,
den
undefinierbaren Augen. Georg, der das Glück
genießen durfte, ein Wesen von der idealen Art
der Anna Rosner sein Eigen zu nennen, fand in
seiner unbewußten Naivelät die Kraft, auf diesen
Besitz zu verzichten. Heinrich geht an einer Ge¬
liebten, die seiner gar nicht wert ist, morali
zu¬
gründe. Der Rassen= und Klassengegensatz
wi¬
schen den beiden gibt Schnitzler den Angelpunkt
zur Erörierung der Judenfrage. Heinrich Beer¬
mann ist mit allen Merkmalen, dem Segen und
dem Fluch dis jahrtausende alten Semitent#ms
ansgestattet. E# hat Assimilationsfähigkeit und
kann seine Abstammung schließlich doch nicht ver¬
leugnen, Wollen und Können halten nicht Schritt.
Er hat Intentionen und vermag sie nicht auszu¬
führen, Fühlen und Denken kämpfen in ihm kon¬
tant einen stets unentschiedenen Kampf. Zwei¬
ellos ist Heinrich Beermann die Figur
deren
charfe Meißelung Schnitzler hier am besten
geglückt.
Um ihn gruppieren sich die anderen Spiel¬
arten seiner Rasse. Beermanns Pendant ist der
Schriftsteller Nürnberger. Er repräsentiert den
scharf ausgeprägten, aber im Grunde unpro¬
duktiven Verstandesmenschen, dessen geistige Ueber¬
legenheit ihm alle Distanz zum Fatsächlichen
raubt. Den Kollektivtyp der reichen vornehmen
Judenfamilie finden wir in der Familie dee
Bankiers Ehrenberg. Der Alte möchte am Zieb¬
sten die zionistische Propaganda zur Tat machen
uind würde sich kaum scheuen, seine Millionen zur
Verwirklichung dieses Zieles herzugeben, ein Sohn
wvieder gehört zu jenen, welche sich ihres Juden¬
ums schämen, ja es sogar bei Gelegenheit ver¬
letgnen. smaeen gi
DPRASGN
Der Zionismus findet seinen Typus in
der
Person des fanatischen Stüdenten Golon
Altlibekalismus den Repräsentauten in
igur
des Arztes Dr. Stauber. An älled diesen Mer
chen zeigt min Schnitler Wesen und Art der
hentigen Kulturfuden. Der seine Takt mit dem
er die heikle Frage behandelt, die ruhige Ueberle¬
genheit, welche ihn nie zum schönfärberischen
Anwalt herabsinken läßt, sind wahrhaft bewun¬
dernswert. Eine tiefe Menschenkenntnis sprich
aus dem Buch, aber auch die Liebe zu den Men¬
schen, welche den Dingen auf den Grund sieht.
Und deshalb wurde der Wag ins Freie kein fü¬
discher Tendengroman, sondern dac Wark eines
Dichters, den es drängte, auch zu dieser Frage
zu künden, was ihm am Herzen lag. Nicht ohne
tiefe Ergriffenheit legt man das Buch aus der
Hand. In Arthur Schnitzlers künstlerischer Ent
wicklung bedeutet es jedenfalls eine wicht
Etappe, die man nicht wird übergehen dürfen