23. Der Feg ins Freie
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ist es doch ein Tendenzroman! Falls die Schil¬
derung aber auf der bewußten Beobachtung
Gusteskranker aufgebaut ist hat der Verfasser aufs
glänzendste seine Aufgabe gelöst, ein Kunstwerk
daraus zu machenund Studien und Stoff durch
die Form zu überwinden. Denn kein Laie wird
aus dem Busde eine psychiatrische Kr#nkenge¬
schichte heraurlesen, er wird es nur nach ästhe¬
tischen (Malitäten Gischätzen und genießen können.
DGE
Wich hörte unlängst ein schönes Wort eines
Herrn, den em Student der Geschichte fragte, ob
er zu seiner Ausbildung in ein sehr berühmtes
Institut für Geschichtsforschung und historische
Hilfswissenschaften gehen solle. Der Professor
antwortete ihm: Ach, geli Sie da lieber nicht
hin, da lernen Sie nichts als die R-Haken, und
das Leben ist kurz.: Man sollte vielleicht öfter
daran denken, daß das Leben kurz ist und daß
ein jeder viel zu viel Zeit darauf verschwendet,
die R-Haken zu lernen. Jedesmal, wenn ich ein
Buch gelesen habe oder lesen mußte, welches
unbedeutend ist, muß ich daran denken. Und
es gibt wahrhaftig so viel gute Bücher, daß man
sie unmöglich alle lesenkann, Bücher, durch welche
man frei wird, aus welchem man lernt, sich das
Leben reich und einfach zu gestalten, wie Geijerstam
einmal sagt. Ich könnte wohl eine Stunde lang
soiche Bücher aufzählen; heute möchte ich nur
Roman von Arthur Schnitzler, Der Hieg ins
Kyeie1). Dieses Büch ISt voll von Leben und voll
von Gedanken, Cins von denen, welche man mehr
als einmal liest. Man kann sich viele Bleistiftstriche
an den Rand machen und dann an jedem beliebigen
Tage das Buch aufschlagen, man findet immer
neue Schönheiten und Feinheiten. Daß die Be¬
obachtung und Darstellung über das gewöhnliche
Maß weit hinausgeht, braucht man bei dem Ver¬
fasser des Reigens, des Leutnant Gustl und der
Dämmerseelen kaum zu betonen. Aber wer
Schnitzler nur aus diesen früheren Werken kennt,
ist, wenn nicht überrascht, so doch aufrichtig
erfreut über dieses neue Buch. Da finden wir
das ganze Leben, wie wir es selbst durchmachen
müssen, Weisheiten und Torheiten, feine Menschen
und gewöhnliche, sympathische und gleichgültige,
Liebe und Sorgen, Arbeit und Genuß, Freude und
Sehnsucht. Es kommt hier gar nicht auf die
Begebenheiten an, sondern auf die Menschen,
Stimmungen und Gedanken.
Es sind keine Helden, die wir kennen lernen,
Gott sei Dank nicht, aber wir kennen all diese
Menschen, wir lächeln über sie oder lieben sie
weil wir sie kennen oder kennen lernen. Da ist
und ein bißchen gewissenlose, und doch die am
meisten sympathische Figur, begabt, strebend und
lieben Bürgermädchen. Bevor ihr Kind geboren
wird, ist er stolz, ein Glied zu sein in der endlosen
Kette, die von Urahnen zu Urenkeln geht, den
Geschlechtern vor und nach ihm die Hände zu
reichen; später, nachdem das Kind tot zur Welt
gekommer ist, ertappt er sich auf dem Gedanken
1) S. Fischer, Verlag. Berlin. Preis M. 5.—, ge
bunden M. 6.—.
ist bei alledem sicher ein feiner und wertvoller
Mensch und es ist wie eine Befriedigung und
Befreiung, daß er später seine Geliebte nicht
heiratet, sondern sein Leben für die Arbeit und
das Schaffen behält. Für ihn paßt dieses Mädchen
nicht, welche zu ihm sagen kann: Noch einmal
— mach ich das nicht durch.: Es ist etwas Weh¬
mütiges und Freies zugleich um diesen Georg von
Wergenthin mit seiner Sehnsucht nach dem Leben
und nach Schönheit und Freiheit. Sein Bild hat
zu viele Züge, von denen jeder wesentlich ist, als
daß man es hier wiedergeben könnte. Er ist einer
von den Menschen, welche immer werden, immer
Neues lernen und fast jeden Tag anders und höher
sind. Er entwickelt sich unbewußt und ungewollt
weiter und nicht nur auf seine musikalische Be¬
gabung kann man die Worte anwenden: Mit tiefem
Verstehen erinnerte er sich einer Bemerkung
Felicians, der einmal, nachdem er monatelang die
Klinge nicht geübt, gesagt hatte: sein Arm wäre
während dieser Zeit auf gute Gedanken gekommen.:
Er findet nach vielem Zweifel und mancherlei Irren
den Weg zu sich selbst, den Weg ins Freie: -In
Georgs Seele war ein mildes Abschiednehmen von
mancherlei Glück und Leid, die er in dem Tal,
das er nun für lange verließ, gleichsam verhallen
örte; und zugleich ein Grüßen unbekannter Tage,
die aus der Weite der Welt seiner Jugend ent¬
gegenklangen.
Es ist ganz unmöglich, den Inhalt dieses Buches
oder auch nur die Schilderung einer Person wieder¬
zugeben. Dies merke ich beim Schreiben immer
mehr und ich möchte am liebsten nur einige Seiten
mit Zitaten anfüllen, das würde vielleicht am besten
seinen Zweck erfüllen und mancnem das Verlangen
nach der Lektüre wecken. Erwähnt muß werden,
daß über die Judenfrage viele sehr gute Bemerkungen
darin sind. Eine Stelle, welche den Gegensatz
zwischen jüdischer und arischer Rasse treffend zu
bezeichnen scheint ist folgender Ausspruch eines
uden: -Ich muß Ihnen sagen, daß mir alle Dinge,
die irgendwie mit Mystik zusammenhängen, im
Grund der Seele zuwider sind. Uber Dinge zu
reden, von denen man nichts wissen kann, ja,
deren Wesen es ist, daß man nie und nimmer
was von ihnen wissen kann, das scheint mir von
aller Art Geschwätz, die auf Erden für Wissenschaft
ausgegeben wird, die unerträglichste.
Derselbe Jude, der dies sagt, hat vielleicht recht
mit seiner Bezeichnung der Juden- als -Mensch¬
heitsferment-, und mit der Bemerkung, daß der
Zionismus eine recht äußerliche Lösung einer
öchst innerlichen Angelegenheite ist. Er sagt
auch dies: Für unsre Zeit gibt es keine Lösung,
keine allgemeine wenigstens. Eher gibt es hundert¬
tausend verschiedene Lösungen. Weil es eben
eine Angelegenheit ist, die bis auf weiteres jeder
mit sich selbst abmachen muß, wie er kann. Jeder
muß selber da zusehen, wie er herausfindet aus seinem
Arger, oder aus seiner Verzweiflung oder aus
seinem Ekel, irgendwohin, wo er wieder frei auf¬
atmen kann. Vielleicht gibt es wirklich Leute, die
dazu bis nach Jerusalem spazieren müssen. Ich
fürchte nur, daß manche, an diesem vermeintlichen
Ziel angelangt, sich erst recht verirrt vorkommen
würden. Ich glaube überhaupt nicht, daß solche
Wanderungen ins, Freie sich gemeinsam unter¬
nehmen lassen denn die Straßen dorthin laufen
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ist es doch ein Tendenzroman! Falls die Schil¬
derung aber auf der bewußten Beobachtung
Gusteskranker aufgebaut ist hat der Verfasser aufs
glänzendste seine Aufgabe gelöst, ein Kunstwerk
daraus zu machenund Studien und Stoff durch
die Form zu überwinden. Denn kein Laie wird
aus dem Busde eine psychiatrische Kr#nkenge¬
schichte heraurlesen, er wird es nur nach ästhe¬
tischen (Malitäten Gischätzen und genießen können.
DGE
Wich hörte unlängst ein schönes Wort eines
Herrn, den em Student der Geschichte fragte, ob
er zu seiner Ausbildung in ein sehr berühmtes
Institut für Geschichtsforschung und historische
Hilfswissenschaften gehen solle. Der Professor
antwortete ihm: Ach, geli Sie da lieber nicht
hin, da lernen Sie nichts als die R-Haken, und
das Leben ist kurz.: Man sollte vielleicht öfter
daran denken, daß das Leben kurz ist und daß
ein jeder viel zu viel Zeit darauf verschwendet,
die R-Haken zu lernen. Jedesmal, wenn ich ein
Buch gelesen habe oder lesen mußte, welches
unbedeutend ist, muß ich daran denken. Und
es gibt wahrhaftig so viel gute Bücher, daß man
sie unmöglich alle lesenkann, Bücher, durch welche
man frei wird, aus welchem man lernt, sich das
Leben reich und einfach zu gestalten, wie Geijerstam
einmal sagt. Ich könnte wohl eine Stunde lang
soiche Bücher aufzählen; heute möchte ich nur
Roman von Arthur Schnitzler, Der Hieg ins
Kyeie1). Dieses Büch ISt voll von Leben und voll
von Gedanken, Cins von denen, welche man mehr
als einmal liest. Man kann sich viele Bleistiftstriche
an den Rand machen und dann an jedem beliebigen
Tage das Buch aufschlagen, man findet immer
neue Schönheiten und Feinheiten. Daß die Be¬
obachtung und Darstellung über das gewöhnliche
Maß weit hinausgeht, braucht man bei dem Ver¬
fasser des Reigens, des Leutnant Gustl und der
Dämmerseelen kaum zu betonen. Aber wer
Schnitzler nur aus diesen früheren Werken kennt,
ist, wenn nicht überrascht, so doch aufrichtig
erfreut über dieses neue Buch. Da finden wir
das ganze Leben, wie wir es selbst durchmachen
müssen, Weisheiten und Torheiten, feine Menschen
und gewöhnliche, sympathische und gleichgültige,
Liebe und Sorgen, Arbeit und Genuß, Freude und
Sehnsucht. Es kommt hier gar nicht auf die
Begebenheiten an, sondern auf die Menschen,
Stimmungen und Gedanken.
Es sind keine Helden, die wir kennen lernen,
Gott sei Dank nicht, aber wir kennen all diese
Menschen, wir lächeln über sie oder lieben sie
weil wir sie kennen oder kennen lernen. Da ist
und ein bißchen gewissenlose, und doch die am
meisten sympathische Figur, begabt, strebend und
lieben Bürgermädchen. Bevor ihr Kind geboren
wird, ist er stolz, ein Glied zu sein in der endlosen
Kette, die von Urahnen zu Urenkeln geht, den
Geschlechtern vor und nach ihm die Hände zu
reichen; später, nachdem das Kind tot zur Welt
gekommer ist, ertappt er sich auf dem Gedanken
1) S. Fischer, Verlag. Berlin. Preis M. 5.—, ge
bunden M. 6.—.
ist bei alledem sicher ein feiner und wertvoller
Mensch und es ist wie eine Befriedigung und
Befreiung, daß er später seine Geliebte nicht
heiratet, sondern sein Leben für die Arbeit und
das Schaffen behält. Für ihn paßt dieses Mädchen
nicht, welche zu ihm sagen kann: Noch einmal
— mach ich das nicht durch.: Es ist etwas Weh¬
mütiges und Freies zugleich um diesen Georg von
Wergenthin mit seiner Sehnsucht nach dem Leben
und nach Schönheit und Freiheit. Sein Bild hat
zu viele Züge, von denen jeder wesentlich ist, als
daß man es hier wiedergeben könnte. Er ist einer
von den Menschen, welche immer werden, immer
Neues lernen und fast jeden Tag anders und höher
sind. Er entwickelt sich unbewußt und ungewollt
weiter und nicht nur auf seine musikalische Be¬
gabung kann man die Worte anwenden: Mit tiefem
Verstehen erinnerte er sich einer Bemerkung
Felicians, der einmal, nachdem er monatelang die
Klinge nicht geübt, gesagt hatte: sein Arm wäre
während dieser Zeit auf gute Gedanken gekommen.:
Er findet nach vielem Zweifel und mancherlei Irren
den Weg zu sich selbst, den Weg ins Freie: -In
Georgs Seele war ein mildes Abschiednehmen von
mancherlei Glück und Leid, die er in dem Tal,
das er nun für lange verließ, gleichsam verhallen
örte; und zugleich ein Grüßen unbekannter Tage,
die aus der Weite der Welt seiner Jugend ent¬
gegenklangen.
Es ist ganz unmöglich, den Inhalt dieses Buches
oder auch nur die Schilderung einer Person wieder¬
zugeben. Dies merke ich beim Schreiben immer
mehr und ich möchte am liebsten nur einige Seiten
mit Zitaten anfüllen, das würde vielleicht am besten
seinen Zweck erfüllen und mancnem das Verlangen
nach der Lektüre wecken. Erwähnt muß werden,
daß über die Judenfrage viele sehr gute Bemerkungen
darin sind. Eine Stelle, welche den Gegensatz
zwischen jüdischer und arischer Rasse treffend zu
bezeichnen scheint ist folgender Ausspruch eines
uden: -Ich muß Ihnen sagen, daß mir alle Dinge,
die irgendwie mit Mystik zusammenhängen, im
Grund der Seele zuwider sind. Uber Dinge zu
reden, von denen man nichts wissen kann, ja,
deren Wesen es ist, daß man nie und nimmer
was von ihnen wissen kann, das scheint mir von
aller Art Geschwätz, die auf Erden für Wissenschaft
ausgegeben wird, die unerträglichste.
Derselbe Jude, der dies sagt, hat vielleicht recht
mit seiner Bezeichnung der Juden- als -Mensch¬
heitsferment-, und mit der Bemerkung, daß der
Zionismus eine recht äußerliche Lösung einer
öchst innerlichen Angelegenheite ist. Er sagt
auch dies: Für unsre Zeit gibt es keine Lösung,
keine allgemeine wenigstens. Eher gibt es hundert¬
tausend verschiedene Lösungen. Weil es eben
eine Angelegenheit ist, die bis auf weiteres jeder
mit sich selbst abmachen muß, wie er kann. Jeder
muß selber da zusehen, wie er herausfindet aus seinem
Arger, oder aus seiner Verzweiflung oder aus
seinem Ekel, irgendwohin, wo er wieder frei auf¬
atmen kann. Vielleicht gibt es wirklich Leute, die
dazu bis nach Jerusalem spazieren müssen. Ich
fürchte nur, daß manche, an diesem vermeintlichen
Ziel angelangt, sich erst recht verirrt vorkommen
würden. Ich glaube überhaupt nicht, daß solche
Wanderungen ins, Freie sich gemeinsam unter¬
nehmen lassen denn die Straßen dorthin laufen