I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 323

23.
Der Ne
ins Freie
box 3/3
# I. . — E. nnenene e en en .
grund an den Tisch der Literaten. Georg äußerte sich vorsichtig an¬
erkennend zu Heinrich über die Gedichte, die er gehört hatte.
„Er ist mir noch der liebste von der ganzen Gesellschaft, persönlich
wenigstens“, sagte Heinrich. „Er weiß doch wenigstens innerlich eine ge¬
wisse Distanz zu wahren. Ja. Sie brauchen mich nicht gleich wieder
anzusehen, als wenn Sie mich auf einem Anfall von Größenwahn er¬
tappten. Aber ich kann Sie versichern Georg, von der Sorte Leute,“
er streifte den Tisch drüben mit einem flüchtigen Blick, „denen immer ein
dä soie auf den Lippen schwebt, hab ich nachgerade genug.“
„Was schwebt ihnen auf den Lippen?“
Heinrich lachte. „Sie kennen doch die Geschichte von dem polnischen
Juden, der mit einem Unbekannten im Eisenbahncoupé sitzt, sehr manier¬
lich — bis er durch irgendeine Bemerkung des andern darauf kommt, daß
der auch ein Jude ist, worauf er sofort mit einem erlösten dä soie die
Beine auf den Sitz gegenüber ausstreckt.“
„Sehr gut“, sagte Georg.
„Mehr als das“ ergänzte Heinrich streng. „Tief. Tief wie so viele
jüdische Anekdoten. Sie schließt einen Blick auf in die Tragikomödie
des heutigen Judentums. Sie drückt die ewige Wahrheit aus, daß ein
Jude vor dem andern nie wirklichen Respekt hat. Nie. So wenig als
Gefangene in Feindesland voreinander wirklichen Respekt haben, be¬
sonders hoffnungslose. Neid, Haß, ja manchmal Bewunderung, am Ende
sogar Liebe kann zwischen ihnen existieren, Respekt niemals. Denn alle
Gefühlsbeziehungen spielen sich in einer Atmosphäre von Intimität ab,
sozusagen, in der der Respekt ersticken muß.“
„Wissen Sie, was ich finde?“ bemerkte Georg, „daß Sie ein ärgerer
Antisemit sind, als die meisten Christen, die ich kenne.
„Glauben Sie?“ Er lachte: „Ein richtiger wohl nicht. Ein richtiger
ist ja nur der, der sich im Grunde über die guten Eigenschaften der Juden
ärgert und alles dazu tut, um ihre schlechten weiter zu entwickeln. Aber
in gewissem Sinne haben Sie schon recht. Ich gestatte mir ja schließlich
auch Antiarier zu sein. Jede Rasse als solche ist natürlich widerwärtig.
Nur der einzelne vermag es zuweilen, durch persönliche Vorzüge mit
den Widerlichkeiten seiner Rasse zu versöhnen. Aber daß ich den Fehlern
der Juden gegenüber besonders empfindlich bin, das will ich gar nicht
leugnen. Wahrscheinlich liegt es nur daran, daß ich, wir alle, auch wir
Juden mein ich, zu dieser Empfindlichkeit systematisch herangezogen wor¬
den sind. Von Jugend auf werden wir darauf hingehetzt gerade jüdische
Eigenheiten als besonders lächerlich oder widerwärtig zu empfinden, was
hinsichtlich der ebenso lächerlichen und widerwärtigen Eigenheiten der
andern eben nicht der Fall ist. Ich will es gar nicht verhehlen, — wenn
sich ein Jude in meiner Gegenwart ungezogen oder lächerlich benimmt,
befällt mich manchmal ein so peinliches Gefühl, daß ich vergehen möchte,
in die Erde sinken. Es ist wie eine Art von Schamgefühl, das viel¬
leicht irgendwie mit dem Schamgefühl eines Bruders verwandt ist, vor
dem sich seine Schwester entkleidet. Vielleicht ist das Ganze auch nur
Egoismus. Es erbittert einen eben, daß man immer wieder für die
Fehler von andern mit verantwortlich gemacht wird, daß man für jedes
Verbrechen, für jede Geschmacklosigkeit, für jede Unvorsichtigkeit, die sich
irgendein Jude auf der Welt zuschulden kommen läßt, mitzubüßen hat.
2. Juliheft 1909
89