23. Der Neg ins Freie
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„Ach so,“ sagte Heinrich, „das ist immer dieselbe Frauensperson, von
Ihre Gedichte handeln? Ich glaubte, es sei immer eine andere.“
der
„Natürlich ist es immer dieselbe. Das ist ja das charakteristische, daß
sie immer wie eine neue Person wirkt.“
Herr Winternitz las leise, aber eindringlich, wie innerlich verzehrt.
Aus seinem Zyklus ergab sich, daß er geliebt worden war, wie nie ein
Mensch vor ihm, aber auch betrogen wie noch keiner, was gewissermaßen
metaphysischen Ursachen und keineswegs Mängeln seiner Persönlichkeit
zuzuschreiben war. Im letzten Gedicht aber erwies er sich als völlig
befreit von seiner Leidenschaft und erklärte sich bereit von nun an alle
Freuden zu genießen, die die Welt ihm bieten mochte. Dieses Gedicht
hatte vier Strophen, der letzte Vers jeder Strophe begann mit einem
„Hei“, und es schloß mit dem Ausruf: „Hei, so jag ich durch die Welt.“
Georg mußte sich gestehen, daß ihm die Vorlesung einen gewissen Ein¬
druck gemacht hatte, und als Winternitz das Heft vor sich hinlegend, mit
übergroßen Augen um sich schaute, nickte Georg beifällig und sagte: „Sehr
schön.“
Winternitz sah erwartungsvoll auf Heinrich, der ein paar Sekunden
schwieg und endlich bemerkte: „Es ist im ganzen sehr interessant ...
aber warum sagen Sie „heie, wenn ich fragen darf? Es glaubt's Ihnen
ja doch niemand.“
„Wieso?“ rief Winternitz.
„Fragen Sie sich doch nur selber aufs Gewissen, ob dieses „heie ehr¬
lich empfunden ist. Alles übrige, das Sie mir da vorgelesen haben, glaub
ich Ihnen. Das heißt, ich glauc es Ihnen in höherm Sinn, obzwar kein
Wort davon wahr ist. Ich glaube Ihnen, daß Sie ein fünfzehnjähriges
Mädchen verführen, daß Sie sich benehmen wie ein ausgepichter Don
Juan, daß Sie das arme Geschöpf in der furchtbarsten Weise verderben,
daß es Sie mit einem, . . . was war er nur ...“
„Ein Clown natürlich“, rief Winternitz mit wahnwitzigem Lachen.
„Daß es Sie mit einem Clown betrügt, daß Sie durch dieses Geschöpf
in immer dunklere Abenteuer geraten, daß Sie die Geliebte, ja sich selber
umbringen wollen, daß Ihnen die Geschichte schließlich egal wird, daß Sie
durch die Welt reisen, oder sogar jagen, meinetwegen bis Australien, ja,
das alles glaub ich Ihnen, aber daß Sie der Mensch sind „heig zu rufen,
das lieber Winternitz, das ist einfach ein Schwindel.“
Winternitz verteidigte sich. Er beschwor, daß dieses „hei“ aus seinem
innersten Wesen hervorgegangen wäre, zum mindesten aus einem ge¬
wissen Element seines innersten Wesens. Auf weitere Einwände Hein¬
richs zog er sich allmählich zurück und erklärte endlich, daß er sich irgend¬
einmal bis zu jener innern Freiheit durchzuringen hoffe, die ihm ge¬
statten würde „hei“ zu rufen.
„Niemals wird diese Zeit kommen“, entgegnete Heinrich bestimmt.
„Sie werden vielleicht einmal bis zum epischen oder dramatischen „heie
kommen, das lyrisch subjektive „heie bleibt Ihnen, bleibt unsereinem, mein
lieber Winternitz, doch bis in alle Ewigkeit versagt.“
Winternitz versprach das letzte Gedicht zu ändern, sich überhaupt weiter
zu entwickeln und an seiner innern Reinigung zu arbeiten. Er stand auf,
wobei seine gestärkte Hemdbrust knackte und ein Knopf aufsprang, reichte
Heinrich und Georg eine etwas feuchte Hand und begab sich in den Hinter¬
Kunstwart Tell. 20
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„Ach so,“ sagte Heinrich, „das ist immer dieselbe Frauensperson, von
Ihre Gedichte handeln? Ich glaubte, es sei immer eine andere.“
der
„Natürlich ist es immer dieselbe. Das ist ja das charakteristische, daß
sie immer wie eine neue Person wirkt.“
Herr Winternitz las leise, aber eindringlich, wie innerlich verzehrt.
Aus seinem Zyklus ergab sich, daß er geliebt worden war, wie nie ein
Mensch vor ihm, aber auch betrogen wie noch keiner, was gewissermaßen
metaphysischen Ursachen und keineswegs Mängeln seiner Persönlichkeit
zuzuschreiben war. Im letzten Gedicht aber erwies er sich als völlig
befreit von seiner Leidenschaft und erklärte sich bereit von nun an alle
Freuden zu genießen, die die Welt ihm bieten mochte. Dieses Gedicht
hatte vier Strophen, der letzte Vers jeder Strophe begann mit einem
„Hei“, und es schloß mit dem Ausruf: „Hei, so jag ich durch die Welt.“
Georg mußte sich gestehen, daß ihm die Vorlesung einen gewissen Ein¬
druck gemacht hatte, und als Winternitz das Heft vor sich hinlegend, mit
übergroßen Augen um sich schaute, nickte Georg beifällig und sagte: „Sehr
schön.“
Winternitz sah erwartungsvoll auf Heinrich, der ein paar Sekunden
schwieg und endlich bemerkte: „Es ist im ganzen sehr interessant ...
aber warum sagen Sie „heie, wenn ich fragen darf? Es glaubt's Ihnen
ja doch niemand.“
„Wieso?“ rief Winternitz.
„Fragen Sie sich doch nur selber aufs Gewissen, ob dieses „heie ehr¬
lich empfunden ist. Alles übrige, das Sie mir da vorgelesen haben, glaub
ich Ihnen. Das heißt, ich glauc es Ihnen in höherm Sinn, obzwar kein
Wort davon wahr ist. Ich glaube Ihnen, daß Sie ein fünfzehnjähriges
Mädchen verführen, daß Sie sich benehmen wie ein ausgepichter Don
Juan, daß Sie das arme Geschöpf in der furchtbarsten Weise verderben,
daß es Sie mit einem, . . . was war er nur ...“
„Ein Clown natürlich“, rief Winternitz mit wahnwitzigem Lachen.
„Daß es Sie mit einem Clown betrügt, daß Sie durch dieses Geschöpf
in immer dunklere Abenteuer geraten, daß Sie die Geliebte, ja sich selber
umbringen wollen, daß Ihnen die Geschichte schließlich egal wird, daß Sie
durch die Welt reisen, oder sogar jagen, meinetwegen bis Australien, ja,
das alles glaub ich Ihnen, aber daß Sie der Mensch sind „heig zu rufen,
das lieber Winternitz, das ist einfach ein Schwindel.“
Winternitz verteidigte sich. Er beschwor, daß dieses „hei“ aus seinem
innersten Wesen hervorgegangen wäre, zum mindesten aus einem ge¬
wissen Element seines innersten Wesens. Auf weitere Einwände Hein¬
richs zog er sich allmählich zurück und erklärte endlich, daß er sich irgend¬
einmal bis zu jener innern Freiheit durchzuringen hoffe, die ihm ge¬
statten würde „hei“ zu rufen.
„Niemals wird diese Zeit kommen“, entgegnete Heinrich bestimmt.
„Sie werden vielleicht einmal bis zum epischen oder dramatischen „heie
kommen, das lyrisch subjektive „heie bleibt Ihnen, bleibt unsereinem, mein
lieber Winternitz, doch bis in alle Ewigkeit versagt.“
Winternitz versprach das letzte Gedicht zu ändern, sich überhaupt weiter
zu entwickeln und an seiner innern Reinigung zu arbeiten. Er stand auf,
wobei seine gestärkte Hemdbrust knackte und ein Knopf aufsprang, reichte
Heinrich und Georg eine etwas feuchte Hand und begab sich in den Hinter¬
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