We
ins Freie
23. Der
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Nürnberger stand am Fenster mit leicht gesenktem Kopf, in dem
braunen, hochgeschlossenen Sakko, das er daheim zu tragen liebte. Er
war nicht allein. Von dem Schreibtisch aus einem alten Armstuhl erhob
sich eben Heinrich, ein Manuskript in den Händen. Georg wurde herz¬
lich empfangen.
„Sollte Ihr Eintreffen in Wien mit der Direktionskrise in der Oper
im Zusammenhang stehn?“ fragte Nürnberger. Er ließ diese Bemerkung
nicht ohne weiteres als Spaß gelten. „Ich bitte Sie,“ sagte er, „wenn
kleine Jungen, die ihre Beziehungen zur deutschen Literatur bis vor kurzem
nur durch den regelmäßigen Besuch eines Literatenkaffees zu dokumen¬
tieren in der Lage waren, als Dramaturgen an Berliner Bühnen berufen
werden, so sähe ich keinen Anlaß zum Staunen, wenn der Baron Wer¬
genthin, nach der immerhin mühevollen sechswöchentlichen Kapellmeister¬
karriere an einem deutschen Hoftheater im Triumph an die Wiener Oper
geholt würde.“
Georg stellte zur Steuer der Wahrheit fest, daß er nur einen kurzen
Urlaub erhalten, um seine Wiener Angelegenheiten zu ordnen; und ver¬
gaß nicht zu erwähnen, daß er gestern die neue Tristaninszenierung ge¬
wissermaßen im Auftrag seiner Intendanz gesehen habe; doch lächelte
er dazu mit Selbstironie. Dann gab er einen kurzen und ziemlich humo¬
ristischen Auszug seiner bisherigen Erlebnisse in der kleinen Residenz.
Auch das Konzert bei Hof berührte er spöttisch, als sei er fern davon, seiner
Stellung, seinen bisherigen Erfolgen, den Theaterdingen, ja dem Leben
überhaupt besondere Wichtigkeit beizumessen. So wollte er vor allem
seine Position Nürnberger gegenüber gesichert haben. Dann kam das
Gespräch auf die Haftentlassung Leo Golowskis. Nürnberger freute sich
dieses unverhofften Ausgangs, lehnte es jedoch ab, sich darüber zu wun¬
dern, da in der Welt und ganz besonders in Österreich bekanntlich stets das
Urwahrscheinlichste zum Ereignis werde. Dem Gerücht von Oskar Ehren¬
bergs Yachtfahrt mit dem Prinzen, das Georg als neuen Beweis für die
Richtigkeit von Nürnbergers Auffassung vorbrachte, wollte er anfangs
trotzdem wenig Glauben schenken. Doch gab er am Ende die Möglichkeit
zu, da ja seine Phantasie, wie er seit langem wußte, von der Wirklichkeit
immer wieder übertroffen würde.
Heinrich sah auf die Uhr. Es war Zeit für ihn sich zu empfehlen.
„Hab ich die Herren nicht gestört?“ fragte Georg. „Ich glaube, Sie
haben was vorgelesen Heinrich, als ich kam.“
„Ich war schon zu Ende“ erwiderte Heinrich.
„Den letzten Akt lesen Sie mir morgen vor, Heinrich“, sagte Nürn¬
berger.
„Ich denke nicht daran“ erwiderte Heinrich lachend. „Wenn die zwei
ersten Akte im Theater so durchgefallen wären, wie jetzt vor Ihnen,
lieber Türnberger, so könnte man das Ding doch auch nicht zu Ende
spielen. Nehmen wir an, Nürnberger, Sie seien entsetzt aus dem Parkett
ins Freie gestürzt. Den Hausschlüssel und die faulen Eier erlaß ich
Ihnen.“
„Donnerwetter!“ rief Georg aus.
„Sie übertreiben wieder einmal, Heinrich“, sagte Nürnberger. „Ich
habe mir nur erlaubt einige Einwendungen vorzubringen,“ wandte er
sich an Georg, „das ist alles. Aber er ist ein Autor!“
2. Juliheft 1909
ins Freie
23. Der
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Nürnberger stand am Fenster mit leicht gesenktem Kopf, in dem
braunen, hochgeschlossenen Sakko, das er daheim zu tragen liebte. Er
war nicht allein. Von dem Schreibtisch aus einem alten Armstuhl erhob
sich eben Heinrich, ein Manuskript in den Händen. Georg wurde herz¬
lich empfangen.
„Sollte Ihr Eintreffen in Wien mit der Direktionskrise in der Oper
im Zusammenhang stehn?“ fragte Nürnberger. Er ließ diese Bemerkung
nicht ohne weiteres als Spaß gelten. „Ich bitte Sie,“ sagte er, „wenn
kleine Jungen, die ihre Beziehungen zur deutschen Literatur bis vor kurzem
nur durch den regelmäßigen Besuch eines Literatenkaffees zu dokumen¬
tieren in der Lage waren, als Dramaturgen an Berliner Bühnen berufen
werden, so sähe ich keinen Anlaß zum Staunen, wenn der Baron Wer¬
genthin, nach der immerhin mühevollen sechswöchentlichen Kapellmeister¬
karriere an einem deutschen Hoftheater im Triumph an die Wiener Oper
geholt würde.“
Georg stellte zur Steuer der Wahrheit fest, daß er nur einen kurzen
Urlaub erhalten, um seine Wiener Angelegenheiten zu ordnen; und ver¬
gaß nicht zu erwähnen, daß er gestern die neue Tristaninszenierung ge¬
wissermaßen im Auftrag seiner Intendanz gesehen habe; doch lächelte
er dazu mit Selbstironie. Dann gab er einen kurzen und ziemlich humo¬
ristischen Auszug seiner bisherigen Erlebnisse in der kleinen Residenz.
Auch das Konzert bei Hof berührte er spöttisch, als sei er fern davon, seiner
Stellung, seinen bisherigen Erfolgen, den Theaterdingen, ja dem Leben
überhaupt besondere Wichtigkeit beizumessen. So wollte er vor allem
seine Position Nürnberger gegenüber gesichert haben. Dann kam das
Gespräch auf die Haftentlassung Leo Golowskis. Nürnberger freute sich
dieses unverhofften Ausgangs, lehnte es jedoch ab, sich darüber zu wun¬
dern, da in der Welt und ganz besonders in Österreich bekanntlich stets das
Urwahrscheinlichste zum Ereignis werde. Dem Gerücht von Oskar Ehren¬
bergs Yachtfahrt mit dem Prinzen, das Georg als neuen Beweis für die
Richtigkeit von Nürnbergers Auffassung vorbrachte, wollte er anfangs
trotzdem wenig Glauben schenken. Doch gab er am Ende die Möglichkeit
zu, da ja seine Phantasie, wie er seit langem wußte, von der Wirklichkeit
immer wieder übertroffen würde.
Heinrich sah auf die Uhr. Es war Zeit für ihn sich zu empfehlen.
„Hab ich die Herren nicht gestört?“ fragte Georg. „Ich glaube, Sie
haben was vorgelesen Heinrich, als ich kam.“
„Ich war schon zu Ende“ erwiderte Heinrich.
„Den letzten Akt lesen Sie mir morgen vor, Heinrich“, sagte Nürn¬
berger.
„Ich denke nicht daran“ erwiderte Heinrich lachend. „Wenn die zwei
ersten Akte im Theater so durchgefallen wären, wie jetzt vor Ihnen,
lieber Türnberger, so könnte man das Ding doch auch nicht zu Ende
spielen. Nehmen wir an, Nürnberger, Sie seien entsetzt aus dem Parkett
ins Freie gestürzt. Den Hausschlüssel und die faulen Eier erlaß ich
Ihnen.“
„Donnerwetter!“ rief Georg aus.
„Sie übertreiben wieder einmal, Heinrich“, sagte Nürnberger. „Ich
habe mir nur erlaubt einige Einwendungen vorzubringen,“ wandte er
sich an Georg, „das ist alles. Aber er ist ein Autor!“
2. Juliheft 1909