I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 345

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sie schon die mannigfaltigsten Elemente in sich ausgenommen
und ihr Gesamtbild ständig erweitert, ohne doch bis heute
gewisser einheitlicher Züge zu entbehren, die ein österreichi¬
sches Buch verhältnismäßig leicht kenntlich machen. Natür¬
lich ist dieses gemeinsame Element sehr viel rascher und
sicherer gefühlt als abstrahiert und auf Formeln gezogen.
Ein Stück Naivität im Sinnlichen und ein Rüchlein Rassen¬
optimismusses dürfte dazugehören, soweit es sich um nicht¬
jüdische Autoren handelt. Zieht man auch die Antoren voll¬
oder halbjüdischen Blutes mit in die Betrachtung, so bleibt
als allgemeinsames Merkmal immer noch ein im Vergleich
zu unserem reichsdeutschen fühlber langsameres Lebens¬
tempo. Das läßt sich ja nun auch in der Lebensführ ig
unseres Nachbarvolkes unmittelbar beobachten; sie eilen
und drängen nicht so unbesonnen wie die „Deutschländer“
Jede Wiener Straße bietet im kleinen einen Tempomesser
dar mit ihrem gemächlichen Laufen der Bürger, die so viel
wenn sie eins erstreben

allmählicher das Ziel erreichen
als ein strebsamer Berliner. In der Politik, wo man es
böswillig Schlamperei heißt, und auf anderen Gebieten soll
dieses Tempo gelegentlich verhängnisvoll wirken. Jedoch,
je mehr Österreicher davon oszukommen und sich unsere
Geschwindigkeit anzueignen streben, um so mehr Deutsche
bemerken wohl dagegen, wiesiel kulturellen und lebendigen
Gewinn eine etwas stärkere Besinnlichkeit des Daseins mit
sich bringt. Man neidet uns, was wir nicht schätzen und wir
neiden, was wir nicht, mindestens nicht mehr ein uns
finden. Indessen auch die Geruhsamkeit des Tempos, die
sich in der Dichtung Hofmannsthals und Roseggers gleicher¬
weise, bei Himmelbauer so gut wie bei Bartsch und Bahr
widerspiegelt, sie ist doch nur ein Anzeichen, eine Außenform
vielleicht des Temperaments und eine Erscheinungsweise
tieferliegender Eigenheiten, denen es nachzuspüren gilt.
Unzweifelhaft handelt es sich um das Tempo einer Zeit,
welche im Deutschen Reich allgemach im Verklingen oder
verklungen ist. Immermann, Keller noch, Fontaue selbst
kannten es noch, Gerhart Hauptmann, Schlaf, Polenz nicht
mehr. Uns bietet sich die Zivilisation, die Kultur so ver¬
schwenderisch reich, in so zahllosen Sinnbildern und Sinn¬
ereignissen dar, daß wir von Jugend auf zu eilen beginnen,
um auch nur einen Teil, einen kleinen winzigen Teil der
Riesenzahl von Phänomenen uns anzueignen. Nicht so dem
Österreicher; in sein Land drang langsamer, mit allmäh¬
licheren Übergängen die Masse der „Errungenschaften“
Ruhiger ausgewählt, besser erprobt — vor allem als bei nns
ist das, was die schwarzgelben Pfähle überschreitet. Noch
viel langsamer dringt es in die Provinzen dieses einheit¬
lichen Staatswesens, das nicht eigne Landeshauptstädte zu
selbständigen Kulturzentren ausgebildet hat, wie wir unser
Hamburg, Köln, Dresden, Stuttgart, München. In Wien
gibt es, um ein recht triviales Beispiel zu erwähnen, noch
heute nur in etwa zehn Hotels Zentralheizung. Langsam
und sozusagen in gesiebtem Zustande dringt das Kultur¬
wesen in Österreich ein.
Es ist nun gar nicht gesagt, daß diese Erscheinung einen
unbestreitbaren Mangel der österreichischen Art bedeute,
eine Inferiorität begründe. Ich persönlich neige sogar zur
gegenteiligen Ansicht. Unzweifelhaft hängen damit sogar
bedeutsame Vorzüge des Kulturlebens zusammen: nicht
ohne tiefere Gründe hat auf dem Kontinent zuerst und mit
größtem Nachdruck und Erfolg Österreich eine Volkshoch¬
schulbildung größten Stils und damit eine Kulturtat von
Bedeutung geschaffen.
Kultur aber, und besonders jene von ihren Elementen,
die ihren Fortschritt möglichst weithin bekunden, ihre
treibenden Ideen und Kräfte haben die immer wieder¬
kehrende Eigenschaft, aufstrebende Menschen mit seltsamer
Gewalt an sich zu ziehen. Das Streben der Provinzler
nach der Hauptstadt, die Abwanderung aus dem deutschen
Osten nal: Westen illustrieren diese Tatsache; und was Wien
in dieser Hinsicht für die Österreicher bedeutet, ist gar nicht
abzuschätzen. Kultursehnsucht
— das ist eins der
Elemente, welche aus diesem Grunde das innere Antlitz
der jungösterreichischen Poesie beherrschen. R. H. Bartschs
neuestes Werk, ein Buch voll Glanz und Auftrieb, brennt
förmlich im Feuer solchen Willens. Bücher von ihm, von
Rosegger, Bahr, Trentini, Ginzkey, Bienenstein, Lux,
Hladny enthalten Entwicklungsschilderungen, welche das
dartun, und der Lebenslauf der Komtesse Marie v. Eschen¬
bach zeigt, wie besät mit Widerständen in Österreich der
Weg zur geistigen Kultur sein mag. Fühlte man sich solcher¬
maßen „zurück in der Kultur“ auf der einen Seite, so konnte
es anderseits nicht ausbleiben, daß man sich vergleichend
auch der eigenen Vorzüge, von denen ja oben schon die
Freie
23. Der Nec ins
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Rede war, bewußt wurde, sobald nur die Zeit herankam,
da die Literatur vermöge ihrer gattungmäßigen Struktur
subjektive und milieunationale Elemente reichlich aufzu¬
nehmen vermochte. Das geschah in der Zeit des mehr oder
minder gemäßigten Realismus, dem in Österreich durch
Anzengruber lange schon der Boden bereitet war (seit 1870).
J. J. David, dann Hermann Bahr und Arthur Schnitzler
bemächtigten sich der neuen Stoffgebiete, jener kritisch be¬
reits im Höferecht (1890), Bahr mit etwas tingeltangelnder
Putzsucht und erst ganz allmählich sachlicher und gehaltvoller
Schnitzler allein mit der vollen Schauenskraft des Ge¬
stalters. Vor fünf, sechs Jahren aber erst war die Zeit
gekommen, wo alle Gebiete der dichterischen Ernte entgegen¬
reisten und neben analytischen schon synthetische Ge¬
taltungen möglich wurden. Es entstanden neben Dich¬
lungen mit österreichischem Klang und mit österreichischem
Stoff Werke, deren Gegenstand Österreich war, Bücher, die
gar nicht mehr mit reichsdeutschen Literaturbewegungen zu¬
sammenhingen und gar nicht mehr als Wagnisse unter¬
nommen, sondern mit natürlicher Ruhe geschaffen waren.
Stößls In den Mauern, Schnitzlers Weg ins Freie, Bahrs
üngere Romane wurden
so.
Und als der lichtspendende
Kristallpunkt all dieser Strahlen erglomm Bartschs Lebens¬
werk in entzündendem Feuer. Sehnsucht und Selbstgenuß,
Fernstreben und Ichbefangenheit, reine Kultur und wohl¬
egründete Kultursehnsucht, österreichische Sprache und
Sinnlichkeit, österreichisches Tempo und ausschreitendes
Streben, österreichischer Elan und österreichisches Gemüt
atten hier eine Bindung gefunden in eine Persönlichkeit
von faszinierendem Offensinn und in Werke von an¬
ziehungsstärkster Eindringlichkeit.
Und heute: Ist die Zusammenfassung schon ein End¬
punkt, der eine Ruhe= und Genußperiode einleitet?
Oder
ein Ende mit dem Beginn neuer Wege. Beides dürfte zu¬
sammentreffen. Vor allem meldet sich stark die Provinz
zum Wort. Hatte schon David die Hannah wundervoll ge¬
childert, Marie v. Ebner=Eschenbach Mährens Dörfer und
Schlösser berühmt gemacht, Rosegger sein Alpenland in die
Herzen geschmeichelt,
so folgten nun Dichtungen aus
Galizien (Stößl), aus Tirol (Greinz, Kranewitter, Schön¬
err, Trentini, Hoffensthal), aus dem Osten (Müller¬
Gutenbrunn, Otto Hauser), aus Böhmen, Prag und Ur¬
österreich (Enrika v. Handel=Mazzetti). Selbst Bartschs
Aufstieg begann mit der Huldigung an die Steiermark.
Zu dieser Art von Büchern gesellt sich heute eine feine,
wohlgerundete Novelle von Gustav Leutelt, die in
Böhmen spielt. Zwar liegt ihr durchaus nicht das Inter¬
esse zugrunde, österreichisches Wesen zu gestalten, sondern
eine psychologisch wertvolle Gestalt beherrscht sie. Aber es
ist doch denttich österreichische Luft, in der, österreichischer
Boden, auf dem sie spielt. Wer die böhmischen Elbe¬
gelände und Reichenberg kennt, wird sich bald vertraut
darin bewegen. Die Geschichte eines überempfindlichen
Kindes, das nach starken Jugendeindrücken fürs ganze
Leben die unglückliche Gabe der Entselbstung des Bhmne
seins, das „zweite Gesicht“ beke
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durch viel Weh und Unheil heranwuchst gum stiele%
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ignierten Mann, diese Geschichte ist mit unverkennbarer
Gestaltensicherheit erzählt. Auch hier berührt das all¬
mähliche Werden= und Reifenlassen der inneren Anschauung
ympathisch; trotz dem ganz feelischen Gegenstande keine
Symptomkrämerei und keine psychische Fetzendardieteng,
sondern echt gefühlte Entwicklung der Elemente. Und, wie
so oft bei diesen Österreichern, ein Ende in ruhigem Natur¬
genuß
Leutelt gelingen ein paar Waldgebirgs¬
stimmungen ganz trefflich. Ist dieses Verhältnis
in
Leutelts Dichtung ein natürliches seelisches Enderlebnis
des von den Menschen abgeschlossenen Kranken, so bietet
Karl Bienenstein ein hingebendes Schwelgen in
Natureinsamkeit und =reinheit. Ein Leben voll innerer
Glut und Leidenschaft, von starken Taten und un¬
besonnenem Ringen spiegelt sich im Tagebuch eines spät
zur Ruhe Gekommenen, der am Meiler im Walde einsame
Tage und Nächte verbringt, selbstgewiß, ein gewinnloser
Sieger des Lebens, der sich selbst und die Welt ge¬
wonnen hat, in der er sich heiter=stolz den „Einzigen“
ühlen darf. In Bienensteins Roman wirkt jene alles
überdauernde Liebe als Triebfeder über Verstoßung,
Sühne, Totschlag und Betrug hin, jenes Gefühl, das in
früher Jugend allmählich sich bilden und seelisch ein¬
wurzeln, nie aber von den Ereignissen des Weltlebens ganz
verdrängt werden konnte, da die Lebensbahnen immer
wieder gelegentlich in die Heimat und an die Quellen des
Gefühls zurückleiteten. Auch dies ist ein Stück Typus
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