I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 357

23. Der Ner ins Freie
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Die gelefensten Bücher.
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V1. (Geschmacksrichtungen des Publikums.)
Nicht immer ist das, was uns der Tagesmarkt in
der Literatur beschert, das Beste und Lesenswerteste. Aber
modern ist es und leider hat das Moderne nirgends so
viel Trümpfe als beim Lesepublikum. Die Frage: Was
soll ich lesen? hat ja auch für den denkenden Menschen
sehr viele Schwierigkeiten. Soll er dem Rat seines Buch¬
händlers, des Leihbibliothekgehilfen oder einer Zeitungs¬
rezension folgen? Ist es auch sicher, daß der ihm
empfohlene Geschmack sein Geschmack ist? Und ebensc
unsicher ist die Ueberlieferung. Zehn Menschen loben ein
Buch, das herzlich schlecht ist, und fünszig beschimpfen
einen Autor, der dem einundfünfzigsten gefällt.
Man muß also, will man mit der Tageswoge
chwimmen, alles lesen, was „interessant“ ist, muß sich
selbst sein Urteil bilden und die glückliche Gabe besitzen,
die schlechten Bücher so rasch als möglich zu vergessen.
Bücherkäufer und Bücherleser sind zwei ganz ver¬
schiedene Begrisse. Man liest Bücher, die einem in den Wurf
kommen, die in den Auslagen bombastisch angekündigt
sind, von denen zur Zeit just gesprochen wird, aber man
kaust solche Bücher nicht. Bücher, die man besitzen will,
müssen irgend einen Wert haben und vor allem die
Wahrscheinlichkeit in sich tragen, daß man sie in ein paar
Jahren wieder hervorholt und zum zweitenmal liest, denn
das ist die sicherste Gewähr dafür, daß ein Buch gut ist,
wenn man es zweimal lesen kann.
Zu den stark gekauften Büchern der letzten
Monate gehört in erster Linie „Ssanin“ ein
russischer Roman, dem dadurch daß er verboten
wurde eine kräftige Reklame gemacht wurde. Er
hat schon zahlreiche Auflagen erlebt und wird dem
Puhlikum in besserer oder schlechterer Uebersetzung kredenzt.
Stark gekauft wird auch der neue Band von Conan Doyle,
em genialen Erfinder des Detektivs Sherlock Holmes.
der englische Schriftsteller hat den Meister=Detektiv fallen
assen und an seiner Stelle einen französischen Brigadier
us der Nayolconzeit ersonnen, der die Welt bereist und
ie abenteuerlichsten Geschichten erzählt. Gelauft werden
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K

zur Zeit ferner Wolzogens neuer Roman „Der Bibelhase“,
der Philosoph Schopenhauer, die Geschichten von Thoma,
Schnitzlers „Der Weg ins Freie“, die Romane von Bartsch
die Werke von Grillparzer und ein kleines humoristisches
Werkchen „Getaufte und Baldgetauste“, das einen starken
Lokalerfolg erzielen konnte.
Ich komme nun zu den gelesensten Büchern. Für die
gibt es einen untrüglichen Gradmesser: die Leihbibliothek.
Sie versorgt den Tagesbevarf des lesehungrigen Publikums,
ie zeigt genau, welchem Geschmack der Leser huldigt
velche Bücher er bevorzugt. Je größer die Nachfrage des
Publikums, desto größer wird die Anzahl der von der
Leihbibliothek gekauften Bücher sein müssen.
Das gelesenste Buch der letzten drei Wochen heißt:
„Die Memoiren einer Schwachsinnigen“ von Helene
Odilon. Das ist das vernichtende Resultat meiner Nach¬
forschungen. Das gelesenste, beileibe nicht das gekaufteste
Welcher gebildete Mensch würde sich auch seinen Bücher¬
kasten mit einem solchen Schund verunzieren! Aber gelesen
wills jeder haben. Einer hat's den andern gesagt, welche
sensationellen „Enthüllungen“, welche schemlosen Intimi¬
äten in dem Buch veröffentlicht werden, dazu kamen die
Volkstümlichkeit der Künstlerin, iher gerichtlichen Assären,
und der Erfolg war da. Die Leihbibliothek wurde ge¬
stürmt, noch heute sind bei Last Hunderte von Menschen
auf das Buch der Frau Odilon vorgemerkt!
Das ist natürlich und glücklicherweise ein ganz vorüber¬
gehender Erfolg. Man wird in ein paar Wochen auf dieses
Buch vergessen haben und die Leihbibliotheken werden im
Herbst die Memoiren der Odilon weit unter dem Er¬
stehungspreise an die Antiquare verkaufen.
Sieht man von diesem Eintagserfolg ab, so kommt
man zu den anderen gelesenen Bücher. Ich verdanke die
interessanten Mitteilungen Herrn Ludwig Last, dem Chef
der bekannten Wiener Leihbibliothek, der mir seine Auf¬
zeichnungen über die gelesensten Bücher zur Verfügung
stellt.
Das Wiener Lesepublikum erwartete in der heurigen
Saison den neuen Sudermann mit großer Spannung.
Nach vierzehnjähriger Pause und nach den ungeheueren
buchhändlerischen Erfolgen von „Frau Sorge", „Katzen¬
steg“ und „Es war“, schien diese Spannung gerechtfertigt.
Zweihundert Exemplare des „Hohen Lied“ mußte die
Lechbibliothek anschaffen. Ein wahrer „Run“ begann, aber
nur die wenigsten Leser waren befriedigt, heute schlummert
„Das hohe Lieb“ und nur vereinzelt nimmt es ein Leser.
Durch einige Monate konnte Artur Schnitzler,
der Lieblingsdichter der Wiener Gesellschaft, das Publikun
esseln. Der „Weg ins Freie“ erzielte in der Leihbibliothel
hunderi Exemplare, aber einen Dauererfolg hatte Schnitzler
icht. — Der neu erschienene dritte Band des Romans
„Prinz Kuknk“ von Bierbaum gab Anlaß dazu, daß
dieser originelle Roman nuerlich stark gelesen wurde.
Von der Leiybibliottek Last wurden 60 Exemplare ange¬
chafft. — Auch Emil Ertl wurde mit seinen zwei Alt¬
Wiener Romanen „Die Leute aus dem Kuckuckshaus" und
„Freiheit, die ich meine“ sehr stark gelesen. Die hübsche,
behagliche Milieuschilderung fesselte alle Leser.
Ein „Sensationsbuch“ im wahren Sinn des Wortes
ist „Der heilige Skarahäus“ von Elsa Jerusalem. Die
D
Autorin folgt den Spuren des bekannten Prozesses Riehl,
bemüht sich realistisch zu sein und sucht das Mitleid des
Lesers für die armen gefallenen Geschöpfe zu erregen. Der
Erfolg des Buches ist durchaus nicht seinen literarischen
Qualitäten, sondern dem heillen, von einer Frau selten an¬
gefaßten Thema zu danken. Auch auf dieses Werk sind
bei Last Hunderte vorgemerkt.
Die Spekulation auf die Erotik ist heute nicht mehr
o sicher wie in früheren Jahren. Der reife Leser will kein
Betäubungsmittel haben, er will durch die Romanlektüre zu
einem interessanten Lebensthema kommen. Die eigentlichen
„pikanten“ Romane werden, wie mir Herr Laß mitteilt,
ntur mehr von ganz jungen Leuten oder von alten Herren
gelesen. Freilich gibt es viele Hunderte solcher Leser, aber
ie zählen trotzdem nicht mit.
Den einzigen großen und nachhaltigen Erfolg hat
Bartsch in der heurigen Saison zu verzeichnen. „Das
terbende Rokoko“ reichte zwar nicht an die Beliebtheit
einer ersten Werke heran, aber die „Zwölf aus der Steier¬
marl“ und die „Haindlkinder“ wurden vom Lesepublikum
verschlunge Lweihundert Exemplare schafste Last an und
diese erwiesen sich noch als zu wenig. Noch heute wird
das Buch verlangt und gelesen. Kein einziger gibt es un¬
befriedigt in die Leihbibliothek zurück. Da kann man's
mit Vergnügen konstatieren: Der beste Mann hat den
größten Erfolg errungen.
Was sonst noch in den Leihbibliotheken gelesen wird?
Sherlock Holmes und unzählige andere Detektivromane,
Gerhard Hauptmann, Ludwig Thoma, dann — „Der Graf
von Monte Christo“. Die drei Musketiere, Spielhagen,
Gustav Freytag und von den Franzosen lediglich Prevost
und Maupassant.
Was in den Leihbibliotheken nicht mehr gelesen
vird? Emile Zola, dessen Zeit vorbei ist, Georg Ebers, Felix
Dahn und die hunderte von geringeren deutschen Tichtern,
die in den letzten Jahrzehnten ebenso rasch auftauchten, als
sie vergessen worden sind.
Die Klassiker, die in den Leihbibliotheken geführt
werden, dienen nur zur Parade. Ausgeliehen werden die
nlicht, denn jeder hat sie zu Hause. Ein Beamter der
Bibliothek erzählt mir, daß kürzlich eine junge Dame von
etwa achizehn Jahren bei ihm erschien und sich einen
Abonnementschein ausstellen ließ. „Was wünscht die Dame
ür ein Buch?“ fragte er. „Geben Sie mir die Gedichte
von Friedrich Schiller,“ war die Antwort.
Sie erhielt ein funkelnagelneues Exemplar, w#r sie
doch die erste Leserin, die jemals aus einer Leihbibliothek
die Schillerschen Gedichte holte!
adg.
Nachdruck verboten.