I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 389

23.
Der Neg
ins Freie
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man sagt, dass hier nicht die denkenden
Menschen sondern die sensitiven ge¬
schildert werden sollten, nicht die Logi¬
ker
sondern die Leidenschaftlichen.
Wiener Menschen sind, wenn wir
Schnitzlers Psychologie, eine überlegen
und klug geübte, annehmen, jene Adligen
und jene Juden, die räumlich benachbart
sind und durch solche Nachbarschaft in
gemeinsame Schicksale verstrickt werden.
Aber es gibt unter den Juden Wesen mit
adligen Instinkten und Neigungen, und
umgekehrt tendieren manche der Adligen
zu Wünschen und Bestrebungen, die je¬
der Talmudweise rechtfertigen würde.
Einfach genug ist in diesem Rahmen das
eigentliche Lebensgemälde. Es ist die
Liebesgeschichte
nämlich,
die sich
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zwischen einem Baron und einem
Bürgerfräulein anspinnt und wiederum
öst. Als beide Liebende, durch einen
milden Kunsteifer zusammengeführt,
zur Höhe der Erotik gelangten, als
sie in einer freien, von toleran¬
ten Angehörigen behüteten Vereinigung
fast die Behaglichkeit der Ehe genossen,
rücken sie von einander ab. Das Kind
ihres Verhältnisses kommt tot zur Welt.
Er, der Liebende, fühlt sich in Fesseln
die ihn als sehr feinnervigen Mann nicht
erst übermässig drücken müssen, als er
zie schon mit sicheren Händen löst. Sie
ist die Leidende, die sich stumm in diese
Fügung ergibt, aber dann langsam in
ihrem Schmerz erkaltet, langsam und
ohne krampfhafte Verbitterung, leise und
in einer Gefasstheit, d’e nur bei unge¬
wöhnlichen Menschen die Regel ist. Der
Mann, der sich loslöst — losreisst wäre
ein zu heftiger Ausdruck — findet den
Weg ins Freie; die Frau bleibt zurück
im Gesträuch ihrer Alltagsschicksale, ge¬
schieden von der
wveiterführenden,
grossen, neues Glück hergebenden Zu¬
kunft. Es ist bei Schnitzler ein Brauch,
dass er neben den Hauptgestalten un¬
wichtigere gehen lässt, die in ihrer Ent
wickelung und Wandlung den ersten Ge¬
schöpfen verwandt sind. So gewinnt der
Titel des Buches symbolische Bedeutung
für die schwankende Wahrheit, dass
Menschen der Gegenwart nicht fähig sind
in gerader, ausdauernder Anhänglichkeit
hrem Leben anzuhaften, dass sie vielmehr
feurig sich danach sehnen im ruhelosen,
richtungslosen Zickzack einen halben,
wehmütigen Frieden des Daseins aufzu¬
haschen.
Menschen der Gegenwart: natürlich wie
sie Schnitzler sieht. Und da erhebt sich
dem Leser, der den schönen Stil des
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DICHTKUNST / MAX HOCHDORF
Buches geniesst, der seine Freude hat an
der sachten Tönung alles Tatsächlichen,
eine wichtigere und schwerere Frage: Har
esSchnitzler nun auch vermocht ganz
die Menschen zu beseelen, die er ahnte
und in seiner Vorstellung sah? Ist sein
Roman, scheinbar sorglos komponiert, im
Grunde aber doch mühselig aufgebaut,
die Schöpfung, die der Dichter wollte
Schnitzler würde diese Frage selbst viel¬
leicht so beantworten: Als ich arbeitete,
da kamen mir die Gedanken und die
Stimmungen so zahlreich und so bunt,
dass ich ihrer nicht mehr Herr werden
konnte. Aber ich dachte mir: Schadet
nichts, in diesem Roman soll gerade das
Unbestimmte, das Durcheinander die
Grundlage sein. Es kommt nur darauf
an, dass die Kerngeschichte klar wird.
So wollte ich denn meine Helden — das
Wort klingt schon recht schulmeisterlich,
aber es ist kurz und deutlich
durch
möglichst zahlreiche Lebensbegebenheiten
hindurchführen. Nicht immer ergaben
sich solche Möglichkeiten zum Vorwärts¬
drängen des Realen von selbst. Darum
verschmähte ich es nicht mit den wohl
bewährten Praktiken glücklicher und ge¬
deihlicher Zufälle mein Werk zu beenden.
Man kann auch bei einer derartigen Me¬
thode ein Mann von Geschmack sein.
Das war Schnitzler auch. Da aber der
blinde Zufall in seinen Menschen spukt,
so scheinen sie mir künstlerisch mangel¬
haft, nicht von ästhetischer Wahrhaftig¬
keit. Junge Schriftsteller sollten Arthur
Schnitzler nicht zum Vorbild nehmen.
Denn seine Anmut, seine Gepflegtheit und
Sanftheit verleiten den jungen, noch un
fertigen Künstler, dass er stilistische
schätzenswerte Tugenden nachahmt, durch
derartige Beflissenheit aber verlockt wird
las Ungestüm, also das Originale des
eigenen Gemüts, als etwas Unge¬
höriges zu dämpfen und zu zer¬
drüch en, die Geste des gelassenen
Mannes anzunehmen, ohne dass er dessen
Seelenweg einherschritt. Es ist aus der
Mode gekommen sich an die Gewalts¬
menschen heranzumachen; man ist nur
noch auf sogenannte Kulturelle und
Intallektuelle versessen, und sehr viel An¬
fänger von Wert scheitern, weil sie sich
von solcher Krankhaftigkeit des Geistes
anstecken lassen.
Man betrachte sich so einen Jungen, zum
Beispiel Hermann Blumenthal.
Einen Rassenroman will auch er schrei¬
en. Er will es, indem er ein Menschen¬
leben schildert,
dessen Umgebung
Freunde und Hassers., indem er seinem.
Leser die Meinung beibringen möchte:
wie mein Menschenkind gross wurde, so
werden Tausende von dieser Rasse gross.
Ein polnisches Judenknäblein, David
Segenreich, ist Blumenthals Genosse.
Knabenalter wurde das Buch getauft
Ja, aber dieser
Berlin, Marquardt.
Blumenthal hat Angst überhaupt von den
Menschen zu reden, die er verspricht.
Den Naturalisten warf man vor, dass sie
zu üppig mit der realen Charakteristik
auftrügen. Heut muss man die Erzähler
schelten, dass sie nicht einmal den Ver¬
such zu einer solchen Charakteristik
machen. Blumenthal ist dieser Judenknabe
selber, er spricht von seiner eigenen Sache.
Doch er spricht elend darüber. Wie ist
es nur möglich, dass Menschen, die an
sich prächtige, farbige Typen scheinen,
so blass und nichtig unter der Feder wer¬
den? Der Autor wurde ein Jüngling in
seiner Welt, er litt in ihr wohl Furchtbares,
aber da er erzählt, schlägt nicht eine Se¬
kunde das Herz für ihn. Das kommt,
weil er zu furchtsam ist die Menschen am
Wickel zu fassen, sie in ihrem Jargon
sprechen zu lassen, sie fluchen und feiern
zu lassen, damit doch Blut in sie hinein¬
kommt. Vor der Plumpheit warnen die Ar¬
usten. Ge# schön, aber solche mut¬
ose Scheu vor jeuer direkten, mutigen
Charakteristik erziehen sie mit ihrer War¬
nung, dass sie einfach eine Gefahr wer¬
len. Da ist zum Beispiel ein Onkel in
dem Buch, der ein Träumer ist, zum Le¬
ben zu schwärmerisch und schwach, aber
aufgelegt für Schnurren und Scherzchen.
Der wird Nachtportier in einem modrigen
Wirtshaus, verliert die Stellung und
kommt dann immer mehr hinunter. Ein
famoser Kerl für einen Poeten! Nichts
vorbeigeschrieben wird. Und so ist es
mit allem in den beiden Büchern Blumen¬
thals: Bildung und Melancholie, aber
keine Bildlichkeit.