13. Exzentrik
Sn box 2/2
Dr. Max Goldschmidt
. Bureau für.
Zeitungsausschnitte
verbunden mit direktem Nachrichtendienst durch
eisene Korrespondenten.
Telephon: III, 3051.
Berlin N. 24.
—
Ausschnitt aus
Deutsches Volksblat, Wien
9 2 A0K 1903
*[Hermann Bahr im Bösendorfer=Saale.] Gestern
abends las Hermann Bahr im Bösendorfer=Saale eigene
und fremde Dichtungen vor leeren Bänken. Er sah wohl
iele,„die nicht da waren“, von denen er erwartet hätte,
daß sie kommen, seinen Worten zu lauschen. Eines deut¬
licheren Beweises für die hohle Aufgeblasenheit dieses ver¬
neintlichen Literaturpapstes bedarf es wohl nicht. Tat¬
sächlich waren nur diejenigen da, die kommen mußten.
Schauspieler und Schauspielerinnen, über welche Hermann
Bahr sein kritisches Szepter schwingt, einige Literaturjüngels,
die im Kaffeehause den Tisch des Allgewaltigen umlungern,
m einige Brocken seiner Huld, die von den Schnitzlers,
lzmanns, Dörmanns u. s. w. übriggelassen ###
zuschnappen, und endlich die berufsmäßigen Kritiker, die
ichkpflichtgemäß ärgern und langweilen mußten. Die Vor¬
estng einer Humoreske von Carlweiß benützte Bahr, um
vieder einmal jenes Theater anzuflegeln, dem er seine Villa
K Ober=St. Veit verdankt. Man sei dort so undankbar,
einen Autor (Carlweiß), durch den man Millionen ver¬
diente, nicht mehr aufzuführen. Wir glauben, daß es in
den Augen Hermann Bahrs ein viel größeres Verbrechen
dieser Bühne ist, daß sie —
Hermann Bahr nicht mehr
aufführt. Den Beschluß der Vortragsreihe machte eine
Cochonerie von Schnitzler, einige Judenbuben gröhlten bei
jeder Zote vor Wollust; einige Leute von Geschmack hatten
vorher den Saal verlassen. Es ist erfreulich, daß die Be¬
hörde das öffentliche Vorlesen von Schnitzlers „Reigen“,
einer Reihe von unzweideutig frech geschilderten erotischen
Szenen, die mit dem Schimpfworte „pikante Literatur“.
noch nicht genügend gekennzeichnet sind, verbot; schade,
daß es keine Zensurbehörde des guten Geschmackes gibte
sie hätte den Vortragsabend überhaupt verbieten müssett.
10 A0N 1903
—
(Vorlesung Hermann Bahr.) Im
Bösendorfer-Saale las gestern Hermann Bahr
Einiges aus den Werken moderner Erzähler. Seine
glänzende Kunst des Vortrages ist oft gerühmt
worden. Sein kräftiges zielbewußtes Sprechen dringt
in alle Stimmungen, gibt Gestalten und Vorgängen
eine eigene Plastik und Lebendigkeit und kann durch
einen schönen Wechsel im Tempo und in der
Stimmfarbe noch dort Interesse und Spannung
erwirken, wo der Witz oder die Kraft des Autors
nachlassen. Zuerst las er eine Novelle „Wirkung
in die Ferne“ die bereits im Druck erschienen
ist, dann einige Verse aus „Der Halkyonyer"¬
Otto Erich Hartleben's letztem Buche, das voll
schöner Gedanken und spöllischen Gelächters ist.
Dann folgte, aus dem Manuseripte vorgetragen,
„Cicero und Horaz“ von Max Burckhard,
eine sehr lustige Skizze aus Italien, in der ein
Mann namens Cicero und ein Hund namens Horazio,
als Fremdenführer, sehr
Beide in ihrer Thätigkeit
Witzig geschildert werden. Bahr machte sich dann und
wann beim Vorlesen den Spaß, Burckhard's
dieses
copiren,
Art
sprechen
zu
zu
rasche, leicht näselnde Weghüpfen von einem
Satztheil zum andern, mit kurzen Pausen an Stelle
der Interpunctions=Zeichen. Nachher kam „Die
Packerln“ von C. Karlweis, diese weh¬
müthig humoristische Schilderung der Intimitäten
eines Ministerabschiedes. Bevor er die Skizze las,
gab Bahr in ein paar kurzen, aber sehr scharsen
*
Worten seiner Verwunderung darüber Ausdruck,
daß der Mann, der mit seinen Werken vielen
Tausenden von Wienern Genuß und Unterhallung
verschafft habe, nun, kaum zwei Jahre nach
und daß
seinem Tode, fast vergessen sei
insbesondere das Theater, daß ihm so große
künstlerische und materielle Erfolge verdanke, sich
nun weigere, seine Stücke aufzuführen. Das
Publicum klatschte zustimmend zu diesen Worten.
Den Schluß der Vorlesung machte „Excentric“
von Axthur Schnitzler, eine famose Humoreske,
die seiner Der Witz
des Vortragenden erreichte vollkommen den des
Autors, Bahr zeigte sich in hinreißendem Uebermuth
auch als ein Meister komischer Gestaltung. Nach
jedem einzelnen Theil der Vorlesung dankte ihm der
Wiche, lang andauernde Applaus des Publicums,
Wiener Fremdenblah
4
19 M0K 1005
* (Vortragsabend Hermann Bahr.) Hermann Bahr hatgestern
Abends im Bösendorfer=Saale seine längst angekündigte und — wir sagen
es nicht als Phrase — mit allgemeiner Spannung erwartete Vor¬
lesung gehalten. Mit Spannung, weil es hieß, Bahr werde Schnitz
„Reigen“ lesen, jenes Buch, welches an Gewagtheit,
A
Unverblümtheit alles bisher Dagewesene und bisher Ver¬
bötene zu unschuldigen Jugendschriften stempelt. Das Publikum be¬
stand größtentheils aus Damen. Das gibt zu denken: Sollten sie
ihre Sitze schon zum „Reigen“ genommen haben? Oder wollten sie dur“)
ihr zahlreiches Erscheinen den Sieg der Zeusur und der zarten Sitte feiern?
Die Pflicht der Höflichkeit gebietet uns, das Letztere anzunehmen. So war
denn das Programm ad usum delphinorum ein wenig geändert worden
und Bahr las von Schnitzler nur „Excentric“ eine kleine pikante und
geistvolle Humoreske aus der „Jugend“. Den Anfang und Grundstock der
ganzen Vorlesung bildete der Vortrag der „Wirkung in die Ferne“, einer Geschick
von Hermann Bahr, die, etwas gruselig und telepathisch=spiritistisch
angehaucht, ihre Wirkung auf das Publikum nicht verfehlte. Dennoch
stellte sich der wirklich intime Kontakt zwischen Vorleser und Hörerkreis¬
erst ein, als Herr Bahr auch Max Burckhard, Karlweis, Hartleben und
Schnitzler zu Worte kommen ließ. Von O. E. Hartleben gelangten einige
Fenien aus seiner demnächst erscheinenden Sammlung „Der Halkonier
zum Vortrag. Hermann Bahr war als Vorleser, wie stets, geistvoll
pointirt (stellenweise vielleicht sogar zu pojntirt), ein trefflicher Sprecher
und ausgezeichnet in der Behandlung seines sympathischen Organes. Dem
Vortrag der Karlweis'schen Skizze ließ er eine kleine Philippika gegen das
Deutsche Volkstheater vorangehen, das Karlweis schon vergessen habe und
Hy
nicht mehr aufführe. Ob wohl Herr Bahr damit wirklich nur seinen ver
#wigten Kollegen Karlweis gemeint hat?
Sn box 2/2
Dr. Max Goldschmidt
. Bureau für.
Zeitungsausschnitte
verbunden mit direktem Nachrichtendienst durch
eisene Korrespondenten.
Telephon: III, 3051.
Berlin N. 24.
—
Ausschnitt aus
Deutsches Volksblat, Wien
9 2 A0K 1903
*[Hermann Bahr im Bösendorfer=Saale.] Gestern
abends las Hermann Bahr im Bösendorfer=Saale eigene
und fremde Dichtungen vor leeren Bänken. Er sah wohl
iele,„die nicht da waren“, von denen er erwartet hätte,
daß sie kommen, seinen Worten zu lauschen. Eines deut¬
licheren Beweises für die hohle Aufgeblasenheit dieses ver¬
neintlichen Literaturpapstes bedarf es wohl nicht. Tat¬
sächlich waren nur diejenigen da, die kommen mußten.
Schauspieler und Schauspielerinnen, über welche Hermann
Bahr sein kritisches Szepter schwingt, einige Literaturjüngels,
die im Kaffeehause den Tisch des Allgewaltigen umlungern,
m einige Brocken seiner Huld, die von den Schnitzlers,
lzmanns, Dörmanns u. s. w. übriggelassen ###
zuschnappen, und endlich die berufsmäßigen Kritiker, die
ichkpflichtgemäß ärgern und langweilen mußten. Die Vor¬
estng einer Humoreske von Carlweiß benützte Bahr, um
vieder einmal jenes Theater anzuflegeln, dem er seine Villa
K Ober=St. Veit verdankt. Man sei dort so undankbar,
einen Autor (Carlweiß), durch den man Millionen ver¬
diente, nicht mehr aufzuführen. Wir glauben, daß es in
den Augen Hermann Bahrs ein viel größeres Verbrechen
dieser Bühne ist, daß sie —
Hermann Bahr nicht mehr
aufführt. Den Beschluß der Vortragsreihe machte eine
Cochonerie von Schnitzler, einige Judenbuben gröhlten bei
jeder Zote vor Wollust; einige Leute von Geschmack hatten
vorher den Saal verlassen. Es ist erfreulich, daß die Be¬
hörde das öffentliche Vorlesen von Schnitzlers „Reigen“,
einer Reihe von unzweideutig frech geschilderten erotischen
Szenen, die mit dem Schimpfworte „pikante Literatur“.
noch nicht genügend gekennzeichnet sind, verbot; schade,
daß es keine Zensurbehörde des guten Geschmackes gibte
sie hätte den Vortragsabend überhaupt verbieten müssett.
10 A0N 1903
—
(Vorlesung Hermann Bahr.) Im
Bösendorfer-Saale las gestern Hermann Bahr
Einiges aus den Werken moderner Erzähler. Seine
glänzende Kunst des Vortrages ist oft gerühmt
worden. Sein kräftiges zielbewußtes Sprechen dringt
in alle Stimmungen, gibt Gestalten und Vorgängen
eine eigene Plastik und Lebendigkeit und kann durch
einen schönen Wechsel im Tempo und in der
Stimmfarbe noch dort Interesse und Spannung
erwirken, wo der Witz oder die Kraft des Autors
nachlassen. Zuerst las er eine Novelle „Wirkung
in die Ferne“ die bereits im Druck erschienen
ist, dann einige Verse aus „Der Halkyonyer"¬
Otto Erich Hartleben's letztem Buche, das voll
schöner Gedanken und spöllischen Gelächters ist.
Dann folgte, aus dem Manuseripte vorgetragen,
„Cicero und Horaz“ von Max Burckhard,
eine sehr lustige Skizze aus Italien, in der ein
Mann namens Cicero und ein Hund namens Horazio,
als Fremdenführer, sehr
Beide in ihrer Thätigkeit
Witzig geschildert werden. Bahr machte sich dann und
wann beim Vorlesen den Spaß, Burckhard's
dieses
copiren,
Art
sprechen
zu
zu
rasche, leicht näselnde Weghüpfen von einem
Satztheil zum andern, mit kurzen Pausen an Stelle
der Interpunctions=Zeichen. Nachher kam „Die
Packerln“ von C. Karlweis, diese weh¬
müthig humoristische Schilderung der Intimitäten
eines Ministerabschiedes. Bevor er die Skizze las,
gab Bahr in ein paar kurzen, aber sehr scharsen
*
Worten seiner Verwunderung darüber Ausdruck,
daß der Mann, der mit seinen Werken vielen
Tausenden von Wienern Genuß und Unterhallung
verschafft habe, nun, kaum zwei Jahre nach
und daß
seinem Tode, fast vergessen sei
insbesondere das Theater, daß ihm so große
künstlerische und materielle Erfolge verdanke, sich
nun weigere, seine Stücke aufzuführen. Das
Publicum klatschte zustimmend zu diesen Worten.
Den Schluß der Vorlesung machte „Excentric“
von Axthur Schnitzler, eine famose Humoreske,
die seiner Der Witz
des Vortragenden erreichte vollkommen den des
Autors, Bahr zeigte sich in hinreißendem Uebermuth
auch als ein Meister komischer Gestaltung. Nach
jedem einzelnen Theil der Vorlesung dankte ihm der
Wiche, lang andauernde Applaus des Publicums,
Wiener Fremdenblah
4
19 M0K 1005
* (Vortragsabend Hermann Bahr.) Hermann Bahr hatgestern
Abends im Bösendorfer=Saale seine längst angekündigte und — wir sagen
es nicht als Phrase — mit allgemeiner Spannung erwartete Vor¬
lesung gehalten. Mit Spannung, weil es hieß, Bahr werde Schnitz
„Reigen“ lesen, jenes Buch, welches an Gewagtheit,
A
Unverblümtheit alles bisher Dagewesene und bisher Ver¬
bötene zu unschuldigen Jugendschriften stempelt. Das Publikum be¬
stand größtentheils aus Damen. Das gibt zu denken: Sollten sie
ihre Sitze schon zum „Reigen“ genommen haben? Oder wollten sie dur“)
ihr zahlreiches Erscheinen den Sieg der Zeusur und der zarten Sitte feiern?
Die Pflicht der Höflichkeit gebietet uns, das Letztere anzunehmen. So war
denn das Programm ad usum delphinorum ein wenig geändert worden
und Bahr las von Schnitzler nur „Excentric“ eine kleine pikante und
geistvolle Humoreske aus der „Jugend“. Den Anfang und Grundstock der
ganzen Vorlesung bildete der Vortrag der „Wirkung in die Ferne“, einer Geschick
von Hermann Bahr, die, etwas gruselig und telepathisch=spiritistisch
angehaucht, ihre Wirkung auf das Publikum nicht verfehlte. Dennoch
stellte sich der wirklich intime Kontakt zwischen Vorleser und Hörerkreis¬
erst ein, als Herr Bahr auch Max Burckhard, Karlweis, Hartleben und
Schnitzler zu Worte kommen ließ. Von O. E. Hartleben gelangten einige
Fenien aus seiner demnächst erscheinenden Sammlung „Der Halkonier
zum Vortrag. Hermann Bahr war als Vorleser, wie stets, geistvoll
pointirt (stellenweise vielleicht sogar zu pojntirt), ein trefflicher Sprecher
und ausgezeichnet in der Behandlung seines sympathischen Organes. Dem
Vortrag der Karlweis'schen Skizze ließ er eine kleine Philippika gegen das
Deutsche Volkstheater vorangehen, das Karlweis schon vergessen habe und
Hy
nicht mehr aufführe. Ob wohl Herr Bahr damit wirklich nur seinen ver
#wigten Kollegen Karlweis gemeint hat?