I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 106

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10. Leutnant Gustl

Litterarische Rundschau.
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Standes in nicht besonders ehrenvollem Lichte;
der gestern abend noch das Oratorium besucht
der Stand als solcher legt in einer geschlossenen
hat, um Mitternacht am Schlage gestorben ist.
Über den Ehrgekränkten kommt eine unbändige
Vertretung Verwahrung dagegen ein und ruft,
wenn sich ihm die Handhabe dazu bietet, ein
Freude. Er hört in diesem Moment auf, Offi¬
öffentliches Gericht an. Ob es sich dabei nun
zier zu sein, und ist nur Mensch. Etwas von
jenem elementaren Lebenshunger kommt über
um einen Angehörigen des Offizier=, des Lehrer=,
des Musiker= oder des Kellnerstandes handelt, ist
ihn, den schon Vater Homer in die Worte faßte:
Lieber hier oben der geringsten Knechte einer als
für unsere Betrachtung gleichgültig; Fälle jeder
lrt sind uns bekannt. Aber keiner von ihnen
drunten der Fürst der Schatten. Niemand weiß
von der seiner Offiziersehre angethanen Beleidi¬
allen vermag uns in der Überzeugung zu er¬
chüttern, daß hier eine gründliche Verkennung
gung; er kann nun die „süße Gewohnheit des
des dichterischen Prozesses vorliegt. Das ganze
Daseins“ fortsetzen. So bricht er auf, um sich
Unheil wird das einst viel gebrauchte Wort „ty¬
mit einem Kameraden zu schlagen ...
isch“ angerichtet haben, ein Begriff, mit dem
Zufall, keine innere Lösung hat den Handel aus¬
doch eigentlich unsere moderne Litteratur, die
getragen. Dieser Ausgang giebt dem Ganzen
noch in besonderem Grade den Vorzug oder die
etwas Skizzenhaftes und Spielerisches: ein Ge¬
Schwäche hat, möglichst einzelne Gestalten, be¬
plänkel, kein Gefecht. Ist es denn aber immer
ondere Individuen zu sehen und darzustellen
nötig, daß eine Frage konsequent und logisch ge¬
ist aufgeräumt hat. Unsere modernen Schrift¬
öst wird? Darf nicht der Schriftsteller ab und
teller lassen ihre Romane nicht mehr in einer
an einmal seinen Ruhm auch in der psycholo¬
„europäischen Hauptstadt“, sie lassen sie in Ber¬
gischen Schilderung und Zergliederung der Neben¬
lin, in Wien, in Paris spielen. Mit dieser
umstände, der scheinbaren Nebenumstände suchen?
Specialisierung der Ortlichkeit geht Hand in
Schnitzler thut das hier. Er legt das Haupt¬
Hand die Individualisierung der Persönlichkeiten.
gewicht auf die Schilderung der „letzten Nacht“
Wenn heute ein Schriftsteller eine „schlecht er¬
die Leutnant Gustl vor seinem vermeintlich siche¬
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zogene Lehrerin“ im Dunkel des Berliner Tier¬
ren Tode verbringt. Und in dieser Partie, der
gartens mit einem Handwerker Küsse tauschen
veitaus umfangreichsten der — übrigens von Co¬
läßt, so liegt es ihm ebenso fern, die „Lehrerin“
schell nicht sonderlich geschmackvoll illustrierten
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oder den „Handwerker“, als Vertreter ihres Stan¬
Erzählung, liegen in der That viele Feinheiten.
des aufzufassen, wie es einem anderen fern liegt,
Das ganze Leben des Leutnants zieht in diesen
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einen Hauptmann, der die Braut seines Bur¬
Stunden noch einmal an ihm vorüber
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hen verführte, als Prototyp seiner militärischen
fühli keine Reue, er steigt noch einmal hinab in
Tharge hinzustellen. Die Lehrerin, der Hand¬
all die kleinen Wonnen, die es ihm geboten hat,
— F
werker, der Hauptmann, den sie sahen
und schüttelt sich schnell ab, was etwa Unange¬
waren so, die anderen alle, die dem gleichen
nehmes mit emportaucht. Ein geringerer Künst¬
Stande angehören, mögen Muster der Ehre sein:
er als Schnitzler hätte sich hier von dem Ernst
ie existieren im Augenblick des Schaffens für
der Stunde leicht verführen lassen, allzu ernst oder
die Phantasie des Schriftstellers gar nicht. Aus
gar moralisch zu werden. Nichts von dem. Leut¬
iesem Gesichtspunkt will uns auch die Ma߬
nant Gustl bleibt auch angesichts des Todes
regelung des Verfassers des „Leutnant Gustl“
Leutnant Gustl, wie er angesichts der unvermutet
als ein fremder Tropfen im Blute der Dichtung
sich aufthuenden Hoffnung auf die Fortsetzung sei¬
erscheinen, den wir ausstoßen sollten.
nes Lebens keine edlen Entschlüsse faßt oder sich
Auch Paul von Szezepanski sucht sich
selber wenigstens „Besserung gelobt“, sondern auch
ein Helden in der militärischen Sphäre, Seine
ier die Gedanken zu der blanken fröhlichen Waffe
oder zu einem süßen Mädel fliegen läßt. Wenn
Spartanerjünglinge (Leipzig, Georg Wigand; geh.
Mk., geb. 3 Mk.) sind die Zöglinge einer
irgend etwas, so, denke ich, gehört diese so ganz
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Kadettenanstalt, böse und gute. Der Held aber
im Charakter der Person und ihres individuellen
ist ein kleiner tapferer Kerl, dex über all seine
Gefühls= und Gedankenkreises verharrende Cha¬
guten und schlimmen Erfahrungen seinem Müt¬
rakteristik zu dem, was man Kunst nennt, Men¬
terchen daheim rührend kindliche Briefe schreibt.

schendarstellungskunst. Dies zu bejahen oder
Er geht an den Folgen eines niederträchtigen
wenn man einer anderen Auffassung huldigt
Streiches, den ein Kamerad ihm spielt, zu
zu verneinen, damit hätte man sich begnügen kön¬
Grunde, sich den Schnedz und die Klagen dar¬
ien. Denn Schnitzler hatie eine Dichtung, keine
über verbeißend bis zum letztem Atemzuge.
Tendenzschrift gegeben. Nun ist aber der Autor
Man möchte an der Lebenswahrheit der hier er¬
zufällig nicht nur Schriftsteller, sondern auch Re¬
zählten Dinge gelinde Zweifel hegen, wenn nicht
serveoffizier. Die Folge war, daß er, sobald sein
bereits höherg“ preußische Offiziere, die selbst das
Leutnant Gustl erschienen war, vom militärischen
Kadettenleben genau kennen, die „packende Wahr¬
Ehrengericht seines Offiziercharakters verlustig er¬
heit“ bestätigt hätten. Trotzdem wird man zu¬
klärt wurde. Uns scheint hier ein Fall vorzu¬
geben müssen, daß der Verfasser etwas allzu
liegen, der bezeichnend ist für eine neuerdings
ark, auf Rührung hingearbeitet hat, was ihm
immer häufiger auftrekende, deshalb aber keines¬
freilich in weiblichen Leserkreisen, für die das
wegs berechtigter werdende Erscheinung. Der
Buch hauptsächlich geschrieben ist, weit mehr Lob
Verlauf ist gewöhnlich folgender: ein Schrift¬
als Tadel eintragen wird.
steller zeichnet den Angehörigen irgend eines