I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 105

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im eigentlich Künstlerischen sind sie recht verschieden. Der
Kürze halber greife ich nur Eins heraus. Gorki fehlt in auf¬
fallender Weise das Talent, ein großes Ganze zu komponiren,
#*) Deutsch von A. Scholz. Verlegt bei P. Cassirer. Berlin
10. Leutnant Gustl
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also eine spezifisch künstlerische Eigenschaft, die gerade Tolsto
im höchsten Grade besitzt. Dabei vergesse man nicht: Tolsto
wüthet geradezu aus moralischen Maximen gegen seine Künst
lernatur und kann sie glücklicherweise doch nicht klein kriegeg
so viel Mühe er sich auch gibt. Gorki aber, der um dies
spezifisch Künstlerische ringt, kann es absolut nicht erreichen,
wenigstens noch nicht. So ist denn Gorki künstlerisch am
werthvollsten in den kleinen Skizzen, während Tolstoi an der
Größe seiner Aufgabe und der Weite seiner Fabel direkt zu
wachsen pflegt. Ganz deutlich kann man das schon in diesem
einen Band „Verlorene Leute“ sehn. Die erste Geschichte,
die dem Band den Namen gegeben hat, ist die längste, aber
zugleich auch rein künstlerisch angesehen, die wenigst werth¬
wvolle. Er kann sich nicht in Zucht nehmen, immer wieder
schweift er ab zu allgemeinen Meditationen und Reflexionen,
die in ein Kunstwerk in solcher Form nicht hineingehören.
Vagabunden sind fast alle Helden Gorki's, der ja selbst lange
Jahre vagabundirend das weite Rußland durchzogen hat.
Helden und Märtyrer werden diese Vagabunden unter seinen
Dichterhänden; aus den verlorenen Leuten im Grunde die
wahren Menschen, denen nichts Menschliches fremd ist, di
nicht nur für alles Böse, sondern meist geradeso auch
alles Gute zu haben sind. Und das Gute thun sie d
nicht, weil es „moralisch“ ist, sondern weil sie's thun mi
oder aus augenblicklicher souveräner Laune, sozusagen
es ihnen gerade Spaß macht. Nicht eingeengt und einge
zwängt in irgendwelche Gesetze und Sittlichkeiten entfalten
sie sich frei im Guten wie im Bösen. Grade darin, d
Gorki diese Menschen so darstellt — denn man kann sie dic
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terisch auch ganz anders auffassen und darstellen
die Größe des Dichters. Diese Welt für sich, die uns bisher
meist überhaupt keine Welt war, sondern eine Hölle, erhebt
er zu einer Welt für uns, an der gemessen unsere Welt recht
arm ist an starken Impulsen und temperamentvollen Thaten.
Wie gehen wir dagegen doch so brav an der Leine! Wie
dagegen doch so wohlanständig Tag für
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Tag an unserm von der Sitte zugemessenen Quantum Haber!
Nicht zu viel und nicht zu wenig, sondern gerade so viel, als
und moralische Durchschnittsgesundheit
für die
wohlbekömmlich ist. Und schlagen wir doch einmal aus, im
Guten oder Bösen, nur immer hübsch vorsichtig, daß ja Nie¬
mand Schaden nimmt und ja Niemand wirklichen Nutzen hat.
Aurea mediocritas! So ist es mir wenigstens menschlich
eine Erholung und ästhetisch ein Vergnügen, einmal ein paar
Stunden mit Gorkis Menschen zu leben, auch wenn hier
von der Theorie, die Heyse für die Novelle aufgestellt hat,
so gut wie garnichts mehr übriggebliebe ist.
Romane und Dovellen
klassisches Oratorium und macht schon während der
Der Offizier und sein durch die Besonderheiten
Aufführung vor sich selber gar kein Hehl daraus,
des Berufs ausgeprägtes Gefühlsleben hat
daß er sich sterblich dabei langweilt. Froh, als
unserer Roman= und Novellenlitteratur lange im
der letzte Ton verklungen ist, drängt er sich in
Schatten stehen müssen. Nun auf einmal ist
einiger Erregung durch die Menge, die sich vor
ein erklärter Liebling unserer Unterhaltungs¬
der Garderobe staut. Dabei ruft er einem be¬
schriftsteller geworden. Noch immer findet man
häbigen Bäckermeister, der ihm den Weg ver
unter dieser Litteratur des bunten Tuches vieles,
sperrt, ein herrisches: „Machen Sie doch Platz!“
was durch die äußere Uniform nicht hindurch¬
zu. Es entsteht ein Wortgeplänkel, und plötzlich
zudringen vermag; in anderem aber, dem besse¬
fühlt der Leutnant, wie sich ihm des Bäcker¬
ren, ist ein ernstes und erfolgreiches Streben be¬
meisters sehnige Faust um den Degengriff legt.
merkbar, etwas von den tieferen und tiefsten
Dabei flüstert er dem Erschreckten zu: „Seien
Konflikten des Standes zu packen. Manchmal
S' stat, Herr Leutnant! Jetzt, wenn Sie das
geschieht das sogar mit einer Offenherzigkeit und
geringste Aufsehen machen, zieh ich den Säbel¬
Rücksichtslosigkeit, die nicht überall mehr Aner¬
aus der Scheide, zerbrech ihn und schick die
kennung findet, ja, die manchmal sogar fremde
Stück' an Ihr Regimentskommando, verstehn Sie
Gewalten in das freie Reich der Dichtung ein¬
mich, Sie dummer Bub?“ Das hat der Bäcker¬
greifen läßt, die hier für gewöhnlich keine Macht¬
meister ganz leise geflüstert; niemand hat etwas
befugnis haben sollten. Ein Vorgang der jüng¬
gehört. Aber in Leutnant Gustl frißt es fort.
sten Zeit hat in dieser Beziehung viel von sich
Auf seinem nächtlichen Gange kommt er zu dem
reden gemacht. Arthur Schnitzler, der Wie¬
Entschluß, mit seinem Leben ein Ende zu machen.
ner Schriftsteller, der bereits in seinem Drama
Er hat seine Ehre nicht verteidigt, er kann kein
„Freiwild“ einen aus der Duellsitte hergeleiteten
Offizier mehr sein, er darf nicht länger leben.
Konflikt des österreichischen Offizierlebens geschil¬
So kommt er übernächtig ins gewohnte Morgen¬
dert hatte, schrieb eine Novelle Leutnant Gustt
café, und das erste, was ihm der Kellner er¬
(Berlin, S. Fischer), die das Thema der „Säbel¬
mit Cafékellnern stehen sich Wiener
zählt —
ehre“ behandelt. Leumant Gustl ist einer jener
Offiziere in der Litteratur immer außerordentlich
Wiener Lebemänner=Offiziere, wie sie uns die
vertraut —, ist die Nachricht, daß der dicke

ob wahrheitsgetreu oder
moderne Litteratur
Bäckermeister von nebenan, derselbe, der jeden
nicht, bleibe dahingestellt — in letzter Zeit so viele
vorgeführt hat. Er besucht eines Abends ein Nachmittag hier seine Tarockpartie spielt, derselbe

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