I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 115

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Nummer 498.
Wien, den 16. April 1004
XXXIX. Band.
Immer deutlicher wird es, daß die wichtigsten Kampfobjekte der
Perspektiven.
modernen Welt nicht mehr auf europäischem Boden, sondern weit
draußen in allen Fernen liegen = in dem Produktenreichtum Afrikas,
Jas englisch=französische Abkommen eröffnet einen Ausblick auf ein
in dem Konsumentenreichtum Asiens. Das Arbeitsfeld der modernen
— merkwürdiges Stück Zeitgeschichte. Noch steht unser altes Europa,
Politik wird immer ausgedehnter, ihre Aufgaben immer komplizierter,
das im Zeitalter der hellenischen Perserkriege an die Spitze der Welt trat,
dabei wachsen die Interessengegensätze, steigern sich die Konflikts¬
auf diesem seit 2400 Jahren behaupteten Ehrenplatze. Wenn es sich um
öglichkeiten. Und indem wir Europäer unsere Industrie, unsere Technik,
Verträge kandelt, in denen ganze Kontinente aufgeteilt werden sollen,
unsere friedlichen und militärischen Künste nach allen fremden Küsten
sind noch immer nur europäiseh Mächte die Kontrahenten. Innerhalb
exportieren, werden wir, die Ausbeuter der zurückgebliebenen Rassen,
unseres Weltteiles haben ja die Machtverhältnisse mannigfach ge¬
zugleich auch ihre Lehrmeister und Erzieher. Wir senden ihnen nicht nur
wechselt; bald war Rom, bald Madrid, bald Wien, bald Paris, bald
Waren, sondern auch Menschenmaterial, das, bei uns überschüssig,
Berlin das Herrschaftszentrum = immer aber blieb dieses Zentrum
dort wohlverwendbar ist und eine neue Heimat findet. Aus den Emi¬
ein europäisches. Das hat etwas Beruhigendes für unser Gefühl, für
granten werden Feinde des Vaterlands, aus den Schülern Feinde der
einen vom Nordkap bis Gibraltar reichenden kontinentalen Patriotis¬
Lehrer. So steht Amerika gegen uns, so Japan. Wer kann voraussehen,
mus. Dieser jüngste Teilungsvertrag zwischen Frankreich und Gro߬
velche neuen Rassen und Länder folgen werden? Die Welt wird nicht
britannien zeigt uns Europa noch auf der Höhe seiner welthistorischen
mehr lange unter denjenigen teilbar sein, die sie bisher geteilt haben.
Stellung. Ueber gewaltige Reiche wird da verfügt, über Marokko
Es melden sich neue Anwärter. Völker, die lernen wollen, lernen rasch,
dessen Gebietsumfang um ein Viertel größer ist als der Oesterreich
besonders rasch in der militärischen Schule, die noch immer die politisch
Ungarns, über Aegypten, das gar fünfmal so geeß ist wie unsere Mon¬
ausschlaggebende ist. Das hat uns schon Rußland — unter Peter dem
archie. Und doch spielen in diese Abmachungen, die noch im hergebrachten
Großen = gezeigt, das in einer Zeit, wo man langsamer lebte als
europäischen Herrschaftsstile gehalten sind, bereits neue geschichtliche
heute, sich in zehn Jahren von Narwa bis Poltawa entwickelte. Warum
Momente hinein, die auf eine kommende große Umgestaltung der bis
wundern wir uns so sehr über die Japaner? Asten, die alle Bolter
herigen Weltordnung hindeuten. Dieser Vertrag wird geschlossen“
wiege, birgt vielleicht noch mancherlei Ueberraschungen, die uns un¬
wenige Jahre nach dem spanisch=amerikanischen Kriege, in dem ein
angenehm werden können. Was gestern noch ethnographisches Sküdien¬
junger Staat kolonialen Ursprungs einen alten Staat von einst un¬
objekt war, kann morgen bereits mit sehr subjektiven Kräften in die
ermeßlichem Kolonialbesitz über den Haufen warf; er wird geschlossen
Weltpolitik eingreifen. Das zwanzigste Jahrhundert wird See= und
zu gleicher Zeit mit dem russisch=japanischen Kriege, in dem eine unserer
Kolonialkriege von einer bisher unerhörten Ausdehnung und Heftigkeit
gefürchtetsten Militärmächte ihre Mittel aufs äußerste anstrengen muß,
ehen, es wird Unabhängigkeitserklärungen und neue Staatenbildungen
um sich eines ganz unversehens aufgetauchten Machtkonkurrenten zu
erleben, die sich gegenwärtig kaum ahnen lassen. Naive Gemüter mögen
erwehren. Es ist nicht viel mehr als ein Jahrhundert her, daß die
sich daran erbauen, daß der englisch=französische Vertrag aus friedlichen
Vereinigten Staaten überhaupt eine staatliche Rolle spielen, und noch
Verhandlungen hervorgegangen ist und friedlichen Zwecken dienen soll.
vor einem Jahrzehnt wurden sie kaum als Großmacht angesehen, die
Dem weiterblickenden Beobachter tun sich blutrote Perspektiven auf.
in den Welthändeln mitzureden hätte. Japan vollends, das um die
Europa gleicht einem glücklichen Spekulanten, der, von der Wucht
Zeit von Königgrätz und Sedan noch erzasiatisch war und erst in unseren
seiner wachsenden Kapitalsmassen gedrängt, sich in immer neue, immer
Tagen eine zivilisierte Staatsordnung und ein diesen Namen ver¬
großartigere Unternehmungen stürzt, bis schließlich das Werk dem
dienendes Armee= und Flottenwesen erhielt, ist mit der Schnelligkeit und
Meister über den Kopf wächs und zusammenbrechend ihn erdrückt. Wer
Plötzlichkeit eines Lotteriegewinnes zur Geltung einer Großmacht ge¬
weiß, wie bald der heute noch mit Eroberergewalt vordringende Kon¬
kommen. Im Zusammenhalt mit diesen begleitenden Tatsachen be¬
E. W.
inent in eine Defensivstellung zurückgeworfen sein wird.
trachtet, nimmt das englisch=französische Abkommen einen ganz anderen
Charakter an, als man ihm auf den ersten Blick hätte beimessen mögen.
Wohl ist es noch von dem überlieferten Geiste der europäischen Welt¬
Die Frage der Ehrengerichte.
hegemonie erfüllt, aber es bedeutet nicht eine trotzige Erneuerung dieses
Geistes, sondern seinen historischen Abschiedsgruß.
Vom Reichsraisabgeordneten Grafen Adalbert Sternberg.
Es ist nebensächlich, wie weit bei dem Zustandekommen des Ver¬
ie Wichtigkeit der Ehrengerichte ist bisher von der öffentlichen
trages Augenblicksbedürfnisse der russischen Politik mitgespielt haben
— Meinung ganz unterschätzt worden.
mögen, die eine englische Neutralitätsassekuranz gewiß gerne mit fran¬
Was ist in der allgemeinen Gerichtspflege das ausschlaggebende
zösischen Prämien bezahlen möchte. Jedenfalls hat England die günstige
Moment für den Verurteilten? Die Strafe als solche oder die damit
Sachlage benützt, um seinen gesammelten Besitz, ehe schwere Zeiten
verbundene öffentliche Brandmarkung, die Entehrung? Unzweifelhaft unter
kommen, unter ein leidlich sicheres Dach zu bringen. Die englischen
jundert Fällen letztere in neunzig. Wenn nun ein Gericht sich konstituiert,
Diplomaten und Geschäftsleute wissen, daß die fetten Jahre für sie
welches offiziell die schwerste Strafe für einen Gebildeten, die Entehrung,
vorüber sind. England konnte einst die Meere beherrschen und seinen
verhängen kann, so hat die gebildete Welt nicht nur ein Recht, sondern
Kolonienhunger mit reichem Landerwerb unter allen Himmelsstrichen
die Pflicht, auf die Konstituierung eines solchen Gerichtes und auf die
stillen, während die Völker Europas mit der Verbissenheit und Wut
Ehrengerichtspraxis ihr Augenmerk zu richten. Ist doch bei uns zu Lande
prozessierender Bauern um schmale Grenzraine stritten und sich die
eder Gebildete, der nicht an einem Gebrechen leidet, Reserve= oder
Köpfe einschlugen. Von britischen Subsidien genährt, tobte sich die
Landwehroffizier und untersteht dem Militär=Ehrengerichte. Spricht ein
europäische Dummheit auf den Schlachtfeldern der Rheinlande
solches das Wort „Schuldig“ aus, so wird der Betroffene mit dem
Böhmens und Italiens aus. Hinter dem kleinen Kreis dieser Welt¬
größten Makel, dem der Ehrlosigkeit, öffentlich gebrandmarkt.
kriege dehnte sich der ungeheuere Kreis des großbritannischen Welt¬
Ich bin ein Anhänger der Institution der Ehrengerichte und halte
reiches. Während des spanischen Erbfolgekrieges nahm England fran¬
sie für eine Notwendigkeit, jedoch verlange ich mit dem allergrößten
zösische und spanische, während des siebenjährigen Krieges weitere fran¬
Nachdrucke, daß die Mitglieder des Ehrenrats unbeeinflußbare und un¬
zösische und spanische, während der Napoleonischen Kriege französische
abhängige Richter und nicht kommandierte Henker sein sollen.
holländische, dänische Besitzungen in allen Erdteilen weg. Aber diese
Oesterreich ist heute noch in manchem Betracht ein Staat der Willkür.
chöne Zeit kehrt nicht wieder. Auch die kontinentalen Völker haben
Das Gebiet der unerhörtesten Willkür ist das der Ehrengerichte. Früher
allmählich begreifen gelernt, daß die Zukunft auf dem Wasser liegt, sie
wurden Differenzen immer mit den Waffen ausgetragen und nur krasse
mehren ihre Handels= und Kriegsflotten, und mit den Interessen der
Fälle ehrenrätlich behandelt, jetzt kommt jede Duellaffäre vor dieses
Kaufleute geht auch der Blick der Diplomaten und Militärs in über¬
Forum. Wir befinden uns aber in einem Uebergangsstadium. Die
seeische Weiten. Man kann sagen, daß nahezu alle Probleme, die ehedem
Begriffe von einst, was bei Ehrenhändeln zu geschehen habe, stehen denen
die europäischen Kabinette in Atem hielten, veraltet und überwunden
von jetzt ziemlich schroff gegenüber. Es fehlt bei uns momentan absolut
sind. Es gibt keine deutsche, keine italienische, keine polnische Frage
an festen Normen, wie in Ehrenhändeln vorzugehen ist. In Frankreich
mehr. Nur Elsaß=Lothringen und die Balkanländer sind noch Reste
gibt es einen bestimmten Koder. Bei uns sagt in einem Falle der eine,
vom ehemaligen Arbeitsstoffe, aber weder hier noch dort bieten sich für
er hätte sich schlagen sollen, der andere: „Nein, niemals“. Wenn eine
England Gewinstchancen, wie sie ihm das XVIII. Jahrhundert bot.