I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 116

Wien, Samstag,
Die Zeit.
16. April 1904.
Nr. 498.
solche Unklarheit bei den maßgebenden Kreisen besteht, dann ist die Ehre
pruch in komplizierten Fällen der reinste Zufall. Es ist also nahe¬
eines Menschen einfach ein vogelfrei erklärtes Gut.
iegend, daß die Ehrenräte für nichtaktive Offiziere anders zusammengestellt
Dies ist ein umso unerträglicherer Zustand, als Militär=Ehrengerichte
sein sollten als die für aktive Offiziere und daß zum mindesten ein Teil
nicht nur verhängnisvoll für Offiziere, sondern ebenso verhängnisvoll für
des Ehrenrats aus nichtaktiven Offizieren bestehen sollte.
Zivilisten sein können. Gesetzt der Fall, ein Offizier hat einen Ehrenhandel
Man muß ferner bedenken, daß der untersuchende Ausschuß aus
mit einem Zivilisten. Die Sekundanten des O'fiziers sehen im Vorgehen
braven Truppenoffizieren besteht, die der Rechtsgelehrsamkeit fern stehen
des Zivilisten einen Verstoß gegen seine Ehre oder haben einen Makel
und die einen nur etwas komplizierten Fall, statt ihn auf die springenden
in seinem Vorleben gefunden oder es ist der Ehrenhandel selbst ein
Punkte zu konzentrieren = was die Kunst eines geübten Untersuchungs¬
solcher, daß es unklar ist, ob der Verstoß gegen die Ehre auf Seiten
richters ist = so weit ausdehnen, daß sich zum Schluß kein Mensch
des Offiziers oder auf Seiten des Zivilisten zu suchen ist. Die Folge ist,
darin auskennt. Das Aktenmaterial wächst wie eine Lawine. Und jede
daß der Offizier um ehrenrätliche Untersuchung einkommen muß, um aus
neue Zeugenaussage bringt ein Heer von neuen Gesichtspunkten in die
dem Beschlusse des Ehrenrats folgern zu können, ob er sich überhaupt
Verhandlung. Nun werden während der Schlußverhandlung diese ganzen
mit diesem Zivilisten schlagen dürfe. Der Ehrenrat untersucht den Fall
zahllosen Akten verlesen. Das dauert oft stundenlang. Und der ehrenrät¬
und erklärt indirekt, indem er dem Offizier verbietet, sich mit diesem
liche Ausschuß bringt am Schluß das Resumé vor. Es liegt also in den
Zivilisten zu schlagen, diesen für einen ehrlosen Menschen. Für den Zivilisten
Händen des Vorsitzenden, die Stimmung der Richter vollständig zu be¬
steht gar kein Appell offen, er hat sich nie verteidigen können und es kann ihm
herrschen. Eine Untersuchung stützt sich im wesentlichen auf Zeugenaus¬
dies geschehen, ohne daß er überhaupt vor das Militär=Ehrengericht berufen
sagen. Die Zeugen werden vernommen, ohne daß ihre Aussagen durch
wird, weil dieses den Fall nur soweit untersucht als er den Offizier
einen Eid oder durch ein feierliches Ehrenwort in ihrer Glaubwürdigkeit
betrifft. Ist der Zivilist ein Mitglied eines Klubs, muß er austreten, gehört
verstärkt würden. Es besteht der Grundsatz, so wenig als möglich und
er dem Beamtenstande an, wird sein Bleiben dort nicht länger geduldet,
nur in den allernötigsten Fällen =Zivilpersonen zu vernehmen. Bei der
gehört er aber einem andern Berufstande an, so wird seine soziale
Untersuchung des Falles wird ferner nicht von vornherein gesagt: „Sie
Stellung dortselbst auf das Gründlichste erschüttert. Es gibt also ein
ind beschuldigt, einen Akt der Feigheit, einen Betrug, einen Wortbruch
Militär=Ehrengericht inappellabel das Urteil ab, ob dieser Zivilist ein
oder was immer begangen zu haben“, sondern der Fall als solcher, die
Ehrenmann ist oder nicht. Bei dem Geiste, der in Offizierskreifen herrscht,
ganze Reihe der Begebenheiten wird geprüft, damit ein Gesamteindruck
kann man sich denken, daß in solchen Fällen der Kamerad immer näher
gewonnen werde, welcher zu beurteilen ist. Dieser Umsta d führt dahin,
steht als der Gegner. Es ist also auch für den Zivilisten aus den ge¬
daß alles genau erhoben werden muß, und daher kann es Fälle geben,
bildeten Ständen von höchster Wichtigkeit, daß die bestehenden Militär¬
wo der Angeklagte bis zum letzten Moment nicht weiß, welche von den
Ehrengerichte unbeeinflußbar und die Vorschriften für dieselben die denk¬
Handlungen und in welchem Sinne ihm zur Last gelegt wird. Auf die
bar korrektesten seien, damit die Ehre, das höchste Gut eines anständigen
Frage, wessen der Angeklagte beschuldigt wird, erfolgt die Antwort, daß
Menschen, nicht der Willkür gewisser höherer Kreise ausgeliefert sei. Die
müsse erst die Untersuchung ergeben. In einem solchen Falle kann der
bisher bestehende Ehrengerichtspraxis aber hietet nicht nur keinen Schutz,
Angeklagte die Verteidigung nicht vorbereiten, weil er die Anklage
sondern enthält die größte Gefahr für den heiligsten Besitz eines jeden
nicht kennt.
Staatsbürgers und ist daher ein vollständig unhaltbarer Zustand.
Am ieformbedürftigsten sind die Ehrengerichte in ihrer Abstimmung.
Bei meiner Erörterung will ich keinen Moment aus dem Auge
Der Richter und Ankläger ist nicht nur eine Person, sondern besteht aus den
lassen, daß dem Kaiser als oberstem Kriegsherrn zu allen Zeiten das
vier Personen den Ausschusses, der mit dem Vorsitzenden zusammen den
Recht gewahrt bleiben muß, Offiziere aus der Armee ausstoßen zu
Ausschlag gibt. Der Ausschuß, der den Staatsanwalt darstellt, entscheidet
können, welche ihm als nicht geeignet erscheinen. Aber nur er allein.
zugleich bei der Abstimmung! Das ist ein Verstoß gegen alle prozessualen
Außer der Person des Monarchen darf es keine Nebenkaiser in der
Grundsätze, welche ein Produkt vieltausendjähriger Jurisdiktion sind.
Armee geben, welche durch ihren Einfluß über die Ehre der Offiziere im
Und nun wäre noch eines zu erwähnen. Die einfache Majorität
Wege der bestehenden Ehrengerichtsbarkeit entscheiden können. Es gibt
entscheidet. Wenn nur fünf Stimmen erklären, der Angeklagte sei schuldig
ein Recht auf Ehre, so wie es ein Recht auf Besitz und auf körperliche
und vier der Ansicht sind, er sei nicht schuldig, so ist doch zum min¬
Sicherheit gibt, und daher gibt es auch ein Recht, eine Ehrengerichts¬
desten anzunehmen, daß ein großer Zweifel an der Unehrenhaftigkeit des
barkeit zu verlangen, welche von den Einflüssen hochgestellter Herren und
Mannes vorhanden ist. Denn wenn diese vier, die der Ansicht sind, der
von den Einflüssen der Politik frei ist.
Mann sei ehrenhaft, einen so geringen Begriff von der Ehre haben,
In erster Linie ist es bei den bestehenden Ehrenräten eine große
dann sollten diese vier ebenfalls wegen Unkenntnis dessen, was Standes¬
Ungerechtigkeit, daß für aktive Offiziere dieselben Institutionen gelten,
ehre ist, angeklagt werden. Die Ehrenhaftigkeit ist etwas so Zweifelloses,
wie für nichtakive. Der aktive ist da im allergrößten Vorteil. Er lebt
daß das Geringste, was man von einem Ehrengerichte verlangen kann,
unter seinen Kameraden, sie kennen ihn genau, jeder kennt seine Verhält¬
die Einstimmigkeit ist, damit die ganze Oeffentlichkeit diesen Betreffenden
nisse, weiß beinahe von jedem Schritt, den er macht, und in den aller¬
als einen bemakelten Menschen anzusehen berechtigt ist. Selbst der
meisten Fällen ist die Angelegenheit, um die es sich handelt, den
glühendste Anhänger des bestehenden ehrenrätlichen Verfahrens muß sich
Kameraden genau bekannt. Seine Beurteilung ist daher eine äußerst
agen, daß hier eine große Lücke in den Vorschriften vorhanden ist. Die
leichte. Der aktive Offizier wird im ehrenrätlichen Ausschusse unter
englische Jury entscheidet nur mit Stimmeneinhelligkeit. Bei unseren
100 Fällen 90mal eine für ihn günstige Stimmung vorfinden und nur
Geschwornengerichten ist Zweidrittelmajorität und bei den Ehrengerichten,
eine vollständig erwiesene Verletzung der Ehre wird den Mann sein Portepec
die doch noch ein typischeres Schöffengericht sind, die einfache Majorität.
kosten. Die Lebensweise und Lebensführung des aktiven Offiziers ist so wenig
Nach erfolgter Anklage und Verteidigung werden der Angeklagte
kompliziert, daß die Beurteilung seiner Handlungen äußerst leicht ist. Und
oder dessen Verteidiger entlassen und dann erst beginnt die Diskussion
die Ehrengerichtspraxis beweist, daß nur äußerste Notwendigkeit zur Ver¬
über den ganzen Fall. Den hervorragendsten Anteil an dieser Diskussion
urteilung führt.
nimmt der Vorsitzende, ein Oberst. Er spricht nicht zu unabhängigen
Anders verhält es sich mit dem Offizier der Reserve oder der
Leuten, sondern zu seinen Untergebenen. Und nachdem dieser seine
Landwehr. Dieser hat mit einer ausgesprochenen Voreingenommenheit
Meinung geäußert hat, beteiligt sich der Ankläger, der das ganze Akten¬
des Ausschusses zu rechnen. Er ist ein Fremder, für den das Herz der
material beherrscht, an der allgemeinen Verhandlung, ohne daß der
Ausschußmitglieder nicht schlägt. Ist er ein Jude, dann genügt das
Verteidiger oder der Angeklagte selbst die vorgebrachten Tatsachen wider¬
Moment, daß er vor den Ehrenrat gestellt wird, allein, daß ihm das
egen oder andere Tatsachen, die zu seinen Gunsten sprechen, ihnen ent¬
Genick gebrochen wird. Ich erwähne den Fall Schmitzler der seiner
gegenstellen könnte. Selbstverständlich hat keines der nicht zum Ausschuß
Charge verlustig erklärt wurde, weil er iiener Achelle einen Offizier
gehörenden Mitglieder des Chrenrats sich aus diesem kolossalen Akten¬
geschildert hat, anders als der Ehrenrat sich dies svorstellt. Nicht einmal die
atetial ein Bild machen können, jedes beugt sich daher willig vor den
Rücksicht auf diesen hervorragenden Schriftsteller hat den Ehrenrat zurück¬
Argumenten des Ausschusses. Und wenn nun der Fall eintritt, und
gehalten, ihn der öffentlichen Schande preiszugeben.
solche Fälle kommen vor, daß ein Ehrenrat mit großer Majorität das
Der ehrenrätliche Ausschuß trachtet bei dem aktiven Offizier sein
Schuldig“ abgelehnt hat, so kann dieser Ehrenrat aufgehoben und ein
Material, soweit die Standesehre es gestattet, zu Gunsten des Ange¬
neuer Ehrenrat einberufen werden. In diesem können teilweise Mitglieder
klagten zusammenzustellen. Und wenn nicht ein Druck von oben erfolgt,
des ersten Ehrenrats wieder als Richter fungieren. Wenn dieser Ehrenrat
so ist zweifellos die Ehrengerichtspraris in der Armee eine loyale und
mit einer knappen Majorität den Angeklagten verurteilt hat, so hat der¬
gerechte. Bei den nichtaktiven spielen ganz andere Momente mit, welche
elbe nach den bestehenden Vorschriften kein Appellationsrecht.
den Richterspruch beeinflussen. In erster Linie wird der Fall so unter¬
Die bestehende Ehrengerichts=Praxis ist also auf der ganzen Linie
sucht, daß alle belastenden Momente in den Vordergrund gestellt werden.
reformbedürftig. Und wohlgemerkt, dabei stehe ich nicht auf dem Stand¬
Ein Geschäftsmann, ein Rennman, ein Mann, der große Geldtransaktionen
punkte, daß die Ehrengerichtsbarkeit öffentlich sein sollte. Das ist nicht
im Klub oder auf der Börse macht, kann in die Lage kommen, vor einem
notwendig. Dieses Vertrauen muß man in des Kaisers Rock setzen, wenn
Ehrenrate über eine solche Sache Rede stehen zu müssen. Also hier liegt
der Träger des Kaiserrockes unbeeinflußbar gemacht wird. Dafür bürgt
nicht ein Fall vor, der wie bei dem aktiven Offizier ganz klar und deutlich
der soldatische Geist in der österreichischen Armee. An diesen Geist
ist, sondern hier können die kompliziertesten Verhältnisse eintreten, die weit
appelliere ich, aus diesem Geiste heraus möge sich eine Bewegung bilden,
das Gebiet der Frage, ob die Ehre verletzt oder nieht verletzt worden ist,
welche den heutigen Vehmgerichten ein Ende macht.
überschreiten. Bei diesem ungeheuren Spielraum in der Entscheidung,
ob etwas eine Verletzung der Ehre sei oder nicht,
mehr oder
weniger eine Frage der individuellen Empfindung — ist jeder Urteils¬