I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 158

10. Leutnant
Gust
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Ausschnitt aus:
Die Wage, Wien
vom E
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9. M.
Ansere Officiersnoth und ihre Arsachen.
Da liest man fortwährend von der großartigen Entwick¬
lung und Ausgestaltung der österreichisch=ungarischen Wehrmacht,
von den steten Fortschritten und Verbesserungen derselben in
Organisation, Ausrüstung und Bewaffnung, die angeblich auch
im Auslande nur eitel Bewunderung und Anerkennung erregen,
und mittendrein vernimmt man die für eine moderne Gro߬
mcht gewiß sonderbare Thatsache, daß sich im Schoße dieser
so schlagfertigen Armee nachgerade ein bedenklicher Mangel an
activen Berufsofficieren fühlbar macht, daß sich die vorzeitigen
Austritte durch Uebersetzung in die Reserve, Uebernahme in
den Civilstaatsdienst u. dergl. in beunruhigender Weise häufen,
AH
daß auch der Zufluß zu den Militärerziehungs= und Bildungs
Ab
anstalten in fortwährender Abnahme begriffen ist, und daß
neben der seit vielen Jahren bestehenden Unteroffieiersfrage.
mit einemmale auch die Sorge um die Besetzung der vielen
Inh
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offenen Officiersstellen auftritt.
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Freilich ist diese neueste Calamität nicht so ganz über
des
Nacht entstanden. Schon seit mehreren Jahren kone „man aus
wer
der nervösen Geschäftigkeit der Unterrichtsabtheilung s Reichs¬
kriegsministeriums, aus den gewagten Experimenten und abson¬
derlichen Sprüngen, die da der Reihe nach auf dem Gebiete
der militärischen Unterrichtsreform versucht wurden, den Schluß
ziehen, daß die Dinge nicht so gehen, wie sie gehen sollen
Bald erhöhte man die wissenschaftlichen Anforderungen
für die Aufnahme in die Militärerziehungsanstalten, bald ging
man mit ihnen herab. Einmal versuchte man es mit einer An¬
gliederung, beziehungsweise Gleichstellung dieser Anstalten mit
den Civilgymnasien, um den Uebertritt von der bürgerlichen
in die militärische Erziehung und umgekehrt zu erleichtern,
dann wieder mit einer Erweiterung der bisherigen Büeger¬
schulen, welche zu vierelassigen Lehranstalten umgewandelt
werden und ihre Absolventen theilweise für die Cadettenschulen
vorbereiten sollten. Vor einiger Zeit kam Herrn von Krieg¬
hammer sogar der scharffinnige Gedanke, die Uniform der
Militärzöglinge zu reformiren, sie schöner, kleidsamer, offieiers¬
mäßiger zu gestalten. Er erwarb sich damit zweifellos den
ungetheilten Beifall der gesammten uniformirten Jugend; aber
außerhalb der Kasernen vermochte man diesen kinderfreund¬
lichen Allüren des Herrn Kriegsministers wenig Geschmack ab¬
zugewinnen und die eigentliche Wirkung dieser, sowie aller
übrigen, oben angedenteten Neuerungen, welche seither zum
Theile wieder rückgängig gemacht wurden, blieb aus. Nach
wie vor lichtete sich zusehends der Zöglingsstand der Militär
schulen, selbst die Stiftungsplätze fanden beiweitem nicht mehr
die genügende Zahl von Bewerbern, und heute ist der Stand
der Theresienischen Militärakademie auf ein noch nie dagewesenes
Minimum von Zöglingen gesunken. Daneben verlassen aber
auch active Officiere in immer größerer Zahl freiwillig und
vorzeitig den militärischen Dienst und viele Namen, welche
durch Generationen der Armee angehörten, findet man heute
im Geschäfts= oder Amtskalender, statt im Militärschematismus.
Unverkennbar hat heute der zweifärbige Rock von seiner früheren
traditionellen Anziehungskraft auf Herz und Gemüth der auf¬
strebenden Jugend merklich eingebüßt, sei es, weil die in den
letzten Jahren so oft und eindringlich erörterte Lage des
Officierscorps in materieller Beziehung auch den unerfahrensten
Gymnasiasten bereits zum Nachdenken veraulaßt, ehe er sich
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hierzulande für den Beruf der Vaterlal
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digung ent¬
scheidet — sei es, weil
dieser Beruf um seiner selbst willen
nicht mehr so angesehen, nicht mehr so erstrebenswerth, nicht mehr
so befriedigend erscheint, wie ehedem.
Klingt schon die erstere Variante sonderbar und geradezu
bedenklich für die Weyrverhältnisse einer modernen Großmacht,
so ist gleichwohl die jetztere, falls sie wirklich oder auch nur
zum Theile die Ursache des Uebels bildet, bezeichnender, be¬
dentsamer und gewiß auh bennruhigender für das Staatsganze,
dessen Verwaltung und Vertheidigung. Gerne hätten wir in
dieser Beziehung noch lieber an die erstere Möglichkeit geglaubt,
gerne und aus vollem Herzen hätten wir der patriotischen Ent¬
rüstung der Regierungspresse zugestimmt, die sich kürzlich in
den schärfsten Ausdrücken gegen Schnitzler's Lientenant Gustl“
erging, wo ganz ernsthaft die Frage aufgeworfen wurde, ob
denn wirklich alle Officiere lediglich um der Vertheidigung des
Vaterlandes willen ihren Beruf wählen, wenn — ja, wenn
nus nicht die Kriegsverwaltung selbst durch die reclamehaften
Commentare, womit sie das kürzlich erschienene Conesaus¬
schreiben für die Militärerziehungs= und Bildungsanstalten be
gleiten läßt, eines Besseren belehren würde! Wie sehr hatten
wir uns doch erfreut an der auscheinend so wohlverdienten
Abfuhr, welche Herrn Schnitzter ob seines „Lientengnt Gusti#
allenthalben zu Theil wurde, wie sehr hatten wir uns schon
erhaut an dem vom Scheitel bis zur Sohle mit echt Oscar
Tenber'schen Attributen ausgestatteten Nur=Lientenant, der uns
in der „Wiener Abendpost“ vom 11. Jänner d. J. vorgeführt
wurde — und nun kommt Herr von Krieghammer mit seinem
Concuesansschreiben, läßt seinen bewährtesten Fachmann in
Sachen der Loyalität
dssiche sammt dessen
Nur=Lientenant schnöde im Stich und gönnt überdies dem
bösen Dr. Schnitzler einen nicht geringen Triumph, indem er
in allen großen Blättern weithin verkünden läßt: „Ihr Alle
die Ihr vorübergeht, Ihr Eltern und Vormänder, eilet herbei
und leset und urtheilet, ob sich für ein Jüngling im Alter
von 20 bis 22 Jahren eine schönere, einträglichere, gesichertere
Stellung findet, als diejenige eines Lientenants! Exemplare
dieser Concursausschreibung, dann der Vorschrift über die Auf¬
nahme in die Militärerziehungs= und Bildungsanstalten sind zu
beziehen von der k. k. Hof= und Staatsdruckerei und von
L. W. Seidl und Sohn, I., Graben Nr. 13“.
Wahrlich, ärger konnten die „maßgebenden Kreise“ dem
allezeit so loyalen Herrn Teuber kaum mitspielen — ein solches
Desaven hat sein „Nur=Lientenant“, der selbstverständlich unc
aus eitel Begeisterung und Vaterlandsliebe den militärischen
Beruf ergriffen, wahrhaftig nicht verdient. Seit so vielen
Jahren arbeitet sich der Herr Regierungsrath seine ganze
schwarzgelbe Seele ab, um die militarischen Triumphe Alt¬
Oesterreichs zu glorificiren, fast täglich führt er uns jetzt in
der „Wiener Abendpost“ neue, bisher unentdeckte „Ruhmes¬
blätter“ vor Augen und nun muß er es erleben, daß das
Pendaut, das er dem Dr. Schnitzler so effectvoll vor die Nase
zu halten glaubte, „oben“ nicht einmal annähernd beachtet
wird! Um aber den braven Patrioten für diese unverdiente
Zurücksetzung wenigstens theilweise zu entschädigen, wollen
wenigstens wir seinen „Nur=Lientenant“ in den nachstehenden
Betrachtungen etwas genauer betrachten.
Die Gelegenheit hiezu ergibt sich von selbst, wir
brauchen nur die andere der beiden Ursachen näher in's Auge
zu fassen, welche dem heutigen Officiersmangel in der öster¬
reichischen Armee zu Grunde liegen mögen, nämlich die materielle
Situation der Berufsoffieiere.

Seitdem die Officiersstellen nicht mehr ausschließlich durch
das Recht der Geburt erlangt oder käuflich erworben werden
können, ist es auch mit den Officierscorps als erstem Stande
— wenigstens in Oesterreich — vorüber! Das Officierscorps
ist heute gottlob zum überwiegend größten Theile dem Volke
entstammt — dem besten, intelligentesten Theile desselben, aber
immerhin dem Volke, tritt daher in seinen Vorrechten, seinem
Einfluße und seinem Ansehen umsomehr hinter dem Hochadel.
und dem Clerus zurück, als die Söhne des ersteren sich
neuestens lieber dem Verwaltungsdienste widmen, wo sie viel
rascher, einsacher, mit weniger Aufwand an geistiger Arbeit und