I, Erzählende Schriften 9, Der blinde Geronimo und sein Bruder, Seite 2

9. Der blinde Geronimo und
sein
Bruder
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Ausschnitt aus
Ausschnitt aus:
29UrZ 19INeue Freie Presse, Wien
#apfriesung Kliut Schnistel.] In den
helles Wiener Jeurnel Wier
ZEFEB 1915
vom:
Räumen und zugunsten des Vollsheime#las gestern
Artur Schnitzler aus eigenen,
an die Erlebnisse
(Vorlesung Artur Schnitzler.) Im Volks¬
und Stimmungen dieser Tage irgendwie anklingenden
Dichtungen. Die Blindenpsychologie begegnet leider eben jetzt
bildungshause erschien am Sonntag Arkur Schnitzler, um einem
besonderem, aktuellem Interesse; so übte schon darum Schnitzlers
einfachen, ganz der Wirkung seiner Dichtungen hingegebenen
zuerst in unserem Blatte erschienene meisterhafte Novelle „Das
Publikum einige seiner Sachen vorzulesen Schnitzler trug
neue Lied“ ungemein tiefgreifende Wirkung. Wie nahe geht
zunächst eine seiner ergreifendsten, in zartester Tönung gehaltenen
einem gerade hier, in diesen Vorstadtgassen, der ländlich= —
Novellen vor. Es war „Der blinde Geronimo und
städtischen Wiener Umrahmung, das Schicksal der armen:
sein Bruder Karlos“, die von wundersamer Liebe durch¬
Marie, der erblindeten Volkssängerin, die als „weiß: Amsel“.4

mit dem neuen Lied debülieren soll, das der coupletgewandte?
zogene Geschichte eines blinden Sängers, der sich von
Rebay eigens für sie zum ersten Wiederauftreten nach ihrer
seinem von Schuldbewußtsein gequälten Bruder betrogen
Genesung verfertigt hat. Sie begegnet an diesem schicksals¬
glaubt, um ihn dann im letzten Moment reuevoll wieder¬
schweren Abend ihrem ungetreuen Liebhaber von einst, da die
Welt für sie noch voller Freude und Farbe war — nun er¬
zufinden. Die wundervolle Einfachheit dieser Erzählung griff an
weist er sich in Maries Unglück, das ihn für immer wie durch
die Herzen und gewann die Zuhörer mit jedem Zug ihrer ins
Lebensschranken von ihr scheidet, als jener kühle „Selbstling",
Innerste dringenden Pfychologte Stürker noch wie diese
der er wohl vom Anbeginn in dieser Beziehung gewesen. Nun
stille Geschichte wirkte Schnitzlers von pulfierend drama¬
geht ihr ein jähes, inneres Licht auf; sie wird sich ihres
tischem Leben erfüllter Einakter „Der grüne Kakadn“ mit
zum Resignieren bestimmten Zustandes bewußt und macht in
seinen wunderbar kontrastierten Gestalten und schillernden Bildern
raschem Entschluß ihrem Dasein ein Ende. Diese Geschichte ist
aus der großen Revolution. Schnitzlers Vortragsweise war voll
mit jener kunstvoll verschlungenen Erzählerdramatik geformt,
der seinsten Nuancen und voll plastischer Lebendigkeit. Herzlich
die Schnitzlers tief in das „Dämmerland der Seele“ tauchenden:
dankte ihm das Publikumfür den künstlerisch genußreichen Abend.
Novellen zugleich die atemlose Spannung des Theaters ge¬
währt. Vor allem hat sie aber wieder in der unmittelbaren
Schilderung des Volkssängertums jene wienerische Färbung,
überlegenen Humor und heimatliche Grazie, wie sie nur
diesem subtilen Gestalter zueigen ist. Noch frischer berührte
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der Dramatiker Schnitzler, der juy sodann mit der Schenken¬
Ausschnitt aus:
szene aus dem „Jungen Medardus“ und dem mittleren Akt
Neue Freie Presse, Wien
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aus dem „Ruf des Lebens“ präsentierte, die Tagesstimmung.

vom:
Als Bühnendichter hat Schnitzlr Offiziersprobleme stets mit
Vorliebe behandelt; auch der „Ruf des Lebens“ ist durch¬
[Artkr SchnitlerN#esung.] Die wen
braust von soldatischen Rufen erfüllt von jener gesteigerten,
bekhnnte, vor 15 Jahren entstandene Schnitzlersche Meis
phantastischen Wirklichkeit die schon das Wort „Krieg“ um uns
##velle „Der blinde Geronimg und sein Bruder die d#
Shre

erstehen läßt. In der Schenkenszene des „Jungen Medardus“
schlägt jene jugendliche Begeisterung, mit der sich die
Dichter gestern im überfüllten Saale des Volksbildungshauses
Akademiker auch hierzulande gegen die Bedrohung des Vater¬
zugunsten dieses Vereines und für Kriegsfürsorgezwecke las,
landes zusammenschlossen, mächtig durch. Der dichtgefüllte
besitzt neben ihren besonderen künstlerischen Vorzügen überdies
Saal nahm diese Darbietungen mit sehr warmem Beifall, ent¬“
noch ergreifende Aktualität. Sie behandelt in jener überaus
gegen.

feinfühligen und psychologisch tief bohrenden Art, die Artut
Schnitzler so vornehm auszeichnet, ein Schicksal, das leider in
diesen Tagen nicht selten geworden ist — das Blindenschicksal.
Schnitzler hat dieses erschütternde Problem auch in einer
späteren Novelle ausgestaltet. Der „blinde Geronimo“ aber be¬
rührt uns noch unmittelbarer, bezwingt uns unentrinnbar z
man gibt sich der bei aller Schlichtheit weisen und großen
Kunst dieser Erzählung um so williger hin, weil man darir
Ausschnitt Wwbies Wiener Tagblatt, Wier
die „Volksseele“ selbst in ihrer zarten Kraft uni
I-ER1915
ein
vom:
Ursprünglichkeit spürt. Der blinde Geronimo
Bettelmusikant, der, von seinem Bruder Carlo getreulich
begleitet, talauf und talab durch die Alpenstraßen Südtirols
Artur S#orlesung. Gestern abend
wandert. Carlo ist an dem Geschick Geronimos schuld; er ha
serschien Artur Schnitzler im Volksbildungshause
ihm das Auge im Knabentollen durch einen Bolzen aus
des 5. Bezirkes als Interpret eigener Dichtungen.
geschossen und seit diesem unglückseligen Mißgeschick das eigen
Er las zunächst die Novelle „Der blinde Geronimo
Leben dem des Bruders zum Opfer gebracht; er begleitet ihn
und sein Bruder Carlo“. Das Motiv dieser Er¬
auf seiner traurigen Wanderschaft. Nun erlaubt sich ein Tourist
den unziemenden Scherz, in dem Blinden die Vorstellung zu
zählung ist von einer wundersamen Schlichtheit,
erwecken, als habe er ihm, vielmehr seinem sehenden Bruder
ohne jene rätselhafte Problematik, die der Dichter
ein Goldstück geschenkt. Carlo besitzt diese Gabe, die Geronime
sonst liebt, nur ein leiser Hauch vorüberhuschender
stürmisch von ihm heischt, keineswegs. Immer tiefer gräbt sich
Erotik, das Ganze dabei doch quellend von innerem
das Mißtrauen in die Seele des Blinden. Carlo fühlt, daß
Leben und in eine Darstellung von klassischer Ruhe
sein ohne die Zuneigung und das Vertrauen des Bruders
gekleidet. Es war interessant zu beobachten, wie der
sinnloses Leben für immer verloren sei, wenn er sich nicht das
stille Zauber dieser keuschen Kunst das Puklikum
Goldstück irgendwie beschaffen könne. Wie er nun um des
allmählich gefangennahm. Von ganz andrer Art
Boiders willen zum Dieb wird und so die Liebe des Blinden
war die zweite Darbietung des Dichters: der geist¬
wieder gewinnt, zeigt Schnitzler mit außerordentlicher Kraft und
volle, dramatisch dröhnende Einakter „Der grüne
seelischer Zartheit zugleich. Das Publikum folgte mit ernstester
Kakadu“ mit seiner packenden Antithese von Schein
Aufmerksamkeit den psychologisch verschlungenen Pfaden des
Dichters und wurde sodann von dessen farbenschillerndem
und Wirklichkeit. Schnitzler wirkte bei dem Vortrag
„Grünen Kakadu“ in die stärkste. Spannung gebracht. Lebhafter,
dieser Dichtung auch durch seine darstellerische
lang daueynder Beifall dankte Schnitzler für das Perk und die
Kraft, die jeder Gestalt ihr charakteristisches Gepräge
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Vörles-1
verlieh. Das Publikum bekundete seinen Dank fur
den genußreichen Abend durch stürmischen Beifalll