1917
Nr. 19
WEERA
*
„A*
Jede Woche ein Werk
Die besten Romane und Novellen aller Zeiten und Völker
1
10 Pfennig die Nummer * Vierteljährlich Mk. 1.20
S
Vorzugsausgabe 30 Pfennig die Rummer, vierteljährlich Nk. 3.—
910
M
Weren
1100
Mn
Len
Arthur Schnitzler:
Der blinde Geronimo und sein Bruder Der Ehrentag
Arthur Schnitzler, geb. 15. Mai 1862 in Wien.
Unter den Dichtern sciner Gencration ist Arthur Schnitzler einer der liebenewürdigsten. Dieser Wiener Arzt war immer ein nachdenklicher.
aft melancholischer Meuschenfreund. Die Welt, die er formte. hat eine warme, sinnliche Atmosphäre die in ihr agierenden Figuren sind
Cramiös. spielerisch, angenehm - selbetverständlich, von einem sehr menschlichen Geist erfunden und in Bewegung gesetzt.
Aleo spielen wir Theater.
Spielen unsere eignen Stücke.
Frühgereift und zart und traurig.
die Komödie unserer Seele.
unseres Fühlens Heut und Gestern.
böser Dinge hübsche Formel.
glatte Worte, bunte Bilder.
halbes, heimliches Empfinden.
Agonien. Episoden
Diesr berühmt gewordenen Worte, die Huge v. Hofmannsthal dem Erstling Schnitzlers, dem „Anstol“, ale Prolog voranstellte, hat der
Dichter der „Liebelei“, des „grünen Kakadu“, des „einsamen Wegs im Laufe seiner Entwicklung immer wieder bestätigt. Er hat nie
vertieft und (esteigert.
Und das #st es. was aus den Dramen und Erzählungen dicecs Dichters eofort auf den Leser oder Hörer überepringt: die Wärme eines
Menschen, der für die Reize dieser Welt, für ihre Freuden und Qualen, für die Widersprüche, Vorurteile, Eitelkeiten, für die Genu߬
sucht und das Komödiantische der Gesellschaft untereinander ein unsagbar feine. Uhr hat. Er diagnootiziert schonungelos. Jedoch:
entlarvt die sich selbst belügende Menschheit nicht ohne mildes Verstehen.
Dieser Dramatiker liebt keine großen Szenen und Knalleffekten weicht er möglichst aus. Er gcht zart mit den Schicksalen der ihm
Anvertrauten um. Und er ist ihnen stets ein liebevoller und milder Richter.
Uberblickt man heute das mannigfaltige Werk des 55 jährigen, — was bietct es? Eine kleine Welt scharfgeschener Meuschen, die ironische
Darstellung flüchtiger Genüsse. Kaum fakbare Stimmungen, Scelenzustände. Wünsche, Gedanken werden auf eine oft verblüffende Manier
festgehalten. Von einem stillen und überlegenen Geist. Man hat ihn zuweilen „frivol“ genannt. Nichte Törichteres aus dieser für den
Anatoldichter herkommliche Stempel. Er hat das Leichte, Unbeschwerte vieler Franzosen. Aber dieser vortreffliche Dialogschreiber
war nic ein leichtfertiger Plauderer; vielmehr ein ernster Künstler. Kein Revolutionär, der aufpeitecht; vielmehr ein stiller Kopf, der
leicht spöttelt, ohne je den Ernst dieses Daseins zu vergessen.
Denn über allem Heiteren dieser kleinen und doch so reichen Welt liegt meist etwas Dunkles. Schweres, eine — man möchte sagen —
lockende Melancholie.
Die gegebene epische Form für diesen Dichter war die Novelle, die dramatisch zugespitzte kurze Erzählung. Er hat gerade al Novellist
einige ganz wundervolle Arbeiten geschaffen, von denen wir in dieser Nummer zwei veröffentlichen: „Der blinde Geronimo und ecin
Bruder und „Der Ehrentag“.
den gedeckten Hofraum hinunterliefen. Sein hier lief die Straße ziemlich eben, ohne Aus¬
Der blinde Geronimo und
Bruder folgte ihm, und beide stellten sich gleich blicke, zwischen kahlen Erhebungen hin. Der
blinde Italiener und sein Bruder Carlo waren
neben der Treppe auf, den Rücken zur Wand ge¬
in den Sommermonaten hier so gut wie zu Hause.
kehrt, um gegen den naßkalten Wind geschützt zu
sein Bruder
Die Post fuhr ein, bald darauf kamen andere
sein, der über den feucht=schmutzigen Boden durch
Wagen. Die meisten Reisenden blieben sitzen, in
die offenen Tore strich.
Der blinde Geronimo stand von der Bank auf
Plaids und Mäntel wohl eingehüllt, andere
Unter dem düsteren Bogen des alten Wirts¬
und nahm die Gitarre zur Hand, die auf dem
stiegen aus und spazierten zwischen den Toren
hauses mußten alle Wagen passieren, die den
Tisch neben dem Weinglase bereit gelegen war.
ungeduldig hin und her. Das Wetter wurde
Weg über das Stilfserjoch nahmen. Für die
Er hatte das ferne Rollen der ersten Wagen
immer schlechter, ein kalter Regen klatschte herab.
Reisenden, welche von Italien her nach Tirol
vernommen. Nun tastete er sich den wohlbekann¬
Nach einer Reihe schöner Tage schien der Herbst
wollten, war es die letzte Rast vor der Höhe. Zu
ten Weg bis zur offenen Türe hin, und dann
ging er die schmalen Holzstufen hinab, die frei in langem Aufenthalte lud es nicht ein, denn gerade plötzlich und allzu früh hereinzubrechen.
Nr. 19
WEERA
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„A*
Jede Woche ein Werk
Die besten Romane und Novellen aller Zeiten und Völker
1
10 Pfennig die Nummer * Vierteljährlich Mk. 1.20
S
Vorzugsausgabe 30 Pfennig die Rummer, vierteljährlich Nk. 3.—
910
M
Weren
1100
Mn
Len
Arthur Schnitzler:
Der blinde Geronimo und sein Bruder Der Ehrentag
Arthur Schnitzler, geb. 15. Mai 1862 in Wien.
Unter den Dichtern sciner Gencration ist Arthur Schnitzler einer der liebenewürdigsten. Dieser Wiener Arzt war immer ein nachdenklicher.
aft melancholischer Meuschenfreund. Die Welt, die er formte. hat eine warme, sinnliche Atmosphäre die in ihr agierenden Figuren sind
Cramiös. spielerisch, angenehm - selbetverständlich, von einem sehr menschlichen Geist erfunden und in Bewegung gesetzt.
Aleo spielen wir Theater.
Spielen unsere eignen Stücke.
Frühgereift und zart und traurig.
die Komödie unserer Seele.
unseres Fühlens Heut und Gestern.
böser Dinge hübsche Formel.
glatte Worte, bunte Bilder.
halbes, heimliches Empfinden.
Agonien. Episoden
Diesr berühmt gewordenen Worte, die Huge v. Hofmannsthal dem Erstling Schnitzlers, dem „Anstol“, ale Prolog voranstellte, hat der
Dichter der „Liebelei“, des „grünen Kakadu“, des „einsamen Wegs im Laufe seiner Entwicklung immer wieder bestätigt. Er hat nie
vertieft und (esteigert.
Und das #st es. was aus den Dramen und Erzählungen dicecs Dichters eofort auf den Leser oder Hörer überepringt: die Wärme eines
Menschen, der für die Reize dieser Welt, für ihre Freuden und Qualen, für die Widersprüche, Vorurteile, Eitelkeiten, für die Genu߬
sucht und das Komödiantische der Gesellschaft untereinander ein unsagbar feine. Uhr hat. Er diagnootiziert schonungelos. Jedoch:
entlarvt die sich selbst belügende Menschheit nicht ohne mildes Verstehen.
Dieser Dramatiker liebt keine großen Szenen und Knalleffekten weicht er möglichst aus. Er gcht zart mit den Schicksalen der ihm
Anvertrauten um. Und er ist ihnen stets ein liebevoller und milder Richter.
Uberblickt man heute das mannigfaltige Werk des 55 jährigen, — was bietct es? Eine kleine Welt scharfgeschener Meuschen, die ironische
Darstellung flüchtiger Genüsse. Kaum fakbare Stimmungen, Scelenzustände. Wünsche, Gedanken werden auf eine oft verblüffende Manier
festgehalten. Von einem stillen und überlegenen Geist. Man hat ihn zuweilen „frivol“ genannt. Nichte Törichteres aus dieser für den
Anatoldichter herkommliche Stempel. Er hat das Leichte, Unbeschwerte vieler Franzosen. Aber dieser vortreffliche Dialogschreiber
war nic ein leichtfertiger Plauderer; vielmehr ein ernster Künstler. Kein Revolutionär, der aufpeitecht; vielmehr ein stiller Kopf, der
leicht spöttelt, ohne je den Ernst dieses Daseins zu vergessen.
Denn über allem Heiteren dieser kleinen und doch so reichen Welt liegt meist etwas Dunkles. Schweres, eine — man möchte sagen —
lockende Melancholie.
Die gegebene epische Form für diesen Dichter war die Novelle, die dramatisch zugespitzte kurze Erzählung. Er hat gerade al Novellist
einige ganz wundervolle Arbeiten geschaffen, von denen wir in dieser Nummer zwei veröffentlichen: „Der blinde Geronimo und ecin
Bruder und „Der Ehrentag“.
den gedeckten Hofraum hinunterliefen. Sein hier lief die Straße ziemlich eben, ohne Aus¬
Der blinde Geronimo und
Bruder folgte ihm, und beide stellten sich gleich blicke, zwischen kahlen Erhebungen hin. Der
blinde Italiener und sein Bruder Carlo waren
neben der Treppe auf, den Rücken zur Wand ge¬
in den Sommermonaten hier so gut wie zu Hause.
kehrt, um gegen den naßkalten Wind geschützt zu
sein Bruder
Die Post fuhr ein, bald darauf kamen andere
sein, der über den feucht=schmutzigen Boden durch
Wagen. Die meisten Reisenden blieben sitzen, in
die offenen Tore strich.
Der blinde Geronimo stand von der Bank auf
Plaids und Mäntel wohl eingehüllt, andere
Unter dem düsteren Bogen des alten Wirts¬
und nahm die Gitarre zur Hand, die auf dem
stiegen aus und spazierten zwischen den Toren
hauses mußten alle Wagen passieren, die den
Tisch neben dem Weinglase bereit gelegen war.
ungeduldig hin und her. Das Wetter wurde
Weg über das Stilfserjoch nahmen. Für die
Er hatte das ferne Rollen der ersten Wagen
immer schlechter, ein kalter Regen klatschte herab.
Reisenden, welche von Italien her nach Tirol
vernommen. Nun tastete er sich den wohlbekann¬
Nach einer Reihe schöner Tage schien der Herbst
wollten, war es die letzte Rast vor der Höhe. Zu
ten Weg bis zur offenen Türe hin, und dann
ging er die schmalen Holzstufen hinab, die frei in langem Aufenthalte lud es nicht ein, denn gerade plötzlich und allzu früh hereinzubrechen.