I, Erzählende Schriften 9, Der blinde Geronimo und sein Bruder, Seite 9

„Die Welt=Itteratur“ 1917 Nr. 19 Arthur Schnitzler: Der bitude Geronimo und sein brucker Der Ehrentag
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Der Blinde sang und begleitete sich dazu auf
wußte, irrte damals tage= und nächtelang auf
Wagens in den heftigen Geräuschen unterging.
der Gitarre; er sang mit einer ungleichmäßigen,
der Landstraße, zwischen den Weinbergen und
Carlo stand auf und nahm wieder seinen Platz
manchmal plötzlich aufkreischenden Stimme, wie
an des Bruders Seite ein.
in den Wäldern umher, und war nahe daran,
immer, wenn er getrunken hatte. Zuweilen
sich umzubringen. Aber der geistliche Herr, dem
Geronimo begann zu singen, schon während
wandte er den Kopf wie mit einem Ausdruck ver¬
er sich anvertraute klärte ihn auf, daß es seine
der Wagen einfuhr, in dem nur ein Passagier
geblichen Flehens nach oben. Aber die Züge
Pflicht war, zu leben und sein Leben dem
saß. Der Kutscher spannte die Pferde eilig aus,
seines Gesichtes mit den schwarzen Bartstoppeln
Bruder zu widmen. Carlo sah es ein. Ein un¬
dann eilte er hinauf in die Wirtsstube. Der
und den bläulichen Lippen blieben vollkommen
geheures Mitleid ergriff ihn. Nur wenn er bei
Reisende blieb eine Weile in seiner Ecke sitzen,
unbeweglich. Der ältere Bruder stand neben
dem blinden Jungen. war, wenn er ihm die
ganz eingewickelt in einen grauen Regenmantel;
ihm, beinahe regungslos. Wenn ihm jemand
Haare streicheln, seine Stirne küssen durfte, ihm
er schien auf den Gesang gar nicht zu hören.
eine Münze in den Hut fallen ließ, nickte er
Geschichten erzählte, ihn auf den Feldern hinter
Nach einer Weile aber sprang er aus dem
Dank und sah dem Spender mit einem raschen,
dem Hause und zwischen den Rebengeländen
Wagen und lief mit großer Hast hin und her,
wie irren Blick ins Gesicht. Aber gleich, beinahe
spazieren führte, milderte sich seine Pein. Er
ohne sick weit vom Wagen, zu entfernen. Er
ängstlich, wandte er den Blick wieder fort und
hatte gleich anfangs die Lehrstunden in der
rieb immierfort die Hände # teinunder, um sich zu
starrte gleich dem Bruder ins Leere. Es war,
Schmiede vernachlässigt, weil er sich von dem
erwärmen. Jetzt erst schien er die Bettler zu
als schämten sich seine Augen des Lichts, das
Bruder gar nicht trennen mochte, uno konnte
bemerken. Er stellte sich ihnen gegenüber und
ihnen gewährt war, und von dem sie dem
sich nachher nicht mehr entschließen, sein Hand¬
sah sie lange wie prüfend an. Carlo neigte leicht
blinden Bruder keinen Strahl schenken konnten.
werk wieder aufzunehmen, trotzdem der Vater
den Kopf, wie zum Gruße. Der Reisende war
mahnte und in Sorge war. Eines Tages fiel es
„Bring mir Wein,“ sagte Geronimo, und
ein sehr junger Mensch mit einem hübschen,
Carlo auf, daß Geronimo vollkommen aufgehört
Carlo ging, gehorsam wie immer. Während er
bartlosen Gesicht und unruhigen Augen. Nach¬
hatte, von seinem Unglück zu reden. Bald
die Stufen aufwärts schritt, begann Geronimo
dem er eine ganze Weile vor den Bettlern ge¬
wußte er, warum: der Blinde war zur Einsicht
wieder zu singen. Er hörte längst nicht mehr auf
standen, eilte er wieder zu dem Tore, durch das
gekommen, daß er nie den Himmel, die Hügel, die
seine eigene Stimme, und so konnte er auf das
er weiterfahren sollte, und schüttelte bei dew
Straßen, die Menschen, das Licht wieder sehen
merken, was in seiner Nähe vorging. Jetzt ver¬
trostlosen Ausblick in Regen und Nebel ver¬#
würde. Nun litt Carlo noch mehr als früher, so
nahm er ganz nahe zwei flüsternde Stimmen,
drießlich den Kopf.
sehr er sich auch selbst damit zu beruhigen
die eines jungen Mannes und einer jungen
„Nun?“ fragte Geronimo.
suchte, daß er ohne jede Absicht das Unglück
Frau. Er dachte, wie oft diese beiden schon den
„Noch nichts,“ erwiderte Carlo. „Er wird
herbeigeführt hatte. Und manchmal, wenn er
gleichen Weg hin und her gegangen sein
wohl geben, wenn er fortfährt.“
am frühen Morgen den Bruder betrachtete, der
mochten; denn in seiner Blindheit und in
Der Reisende kam wieder zurück und lehnte
neben ihm ruhte, ward er von einer solchen
seinem Rausch war ihm manchmal, als kämen
sich an die Deichsel des Wagens. Der Blinde
Angst erfaßt, ihn erwachen zu sehen, daß er in
Tag für Tag dieselben Menschen über das Joch
begann zu singen. Nun schien der junge Mann
den Garten hinauslief, nur um nicht dabei sein
gewandert, bald von Norden gegen Süden, bald
plötzlich mit großem Interesse zuzuhören. Der
zu müssen, wie die toten Augen jeden Tag von
von Süden gegen Norden. Und so kannte er
Knecht erschien und spannte die Pferde wieder
neuem das Licht zu suchen schienen, das ihnen
auch dieses junge Paar seit langer Zeit.
ein. Und jetzt erst, als besänne er sich eben griff
für immer erloschen war. Zu jener Zeit war es,
Carlo kam herab und reichte Geronimo ein
der junge Mann in die Tasche und gab Carlo
daß Carlo auf den Einfall kam, Geronimo, der
Glas Wein. Der Blinde schwenkte es dem jungen
einen Frank.
eine angenehme Stimme hatte, in der Musik
Paare zu und sagte: „Ihr Wohl, meine Herr¬
weiter ausbilden zu lassen. Der Schullehrer
„O danke, danke,“ sagte dieser.
schaften!“
von Tola, der manchmal Sonntags herüberkam,
Der Reisende setzte sich in den Wagen und
„Danke,“ sagte der junge Mann; aber die
lehrte ihn die Gitarre spielen. Damals ahnte
wickelte sich wieder in seinen Mantel. Carlo
junge Frau zog ihn fort, denn ihr war dieser
der Blinde freilich noch nicht, daß die neu¬
nahm das Glas vom Boden auf und ging die
Blinde unheimlich.
erlernte Kunst einmal zu seinem Lebensunter¬
Holzstufen hinauf. Geronimo sang weiter. Der
Jetzt fuhr ein Wagen mit einer ziemlich
halt dienen würde.
Reisende beugte sich zum Wagen heraus und
lärmenden Gesellschaft ein: Vater, Mutter, drei
Mit jenem traurigen Sommertag schien das
schüttelte den Kopf mit einem Ausdruck von
Kinder, eine Bonne.
Unglück für immer in das Haus des alten
Ueberlegenheit und Traurigkeit zugleich. Plötz¬
„Deutsche Familie,“ sagte Geronimo leise zu
Lagardi eingezogen zu sein. Die Ernte mißriet
lich schien ihm ein Einfall zu kommen, und er
Carlo.
ein Jahr nach dem anderen, um eine kleine
lächelte. Dann sagte er zu dem Blinden, der
Geldsumme, die der Alte erspart hatte, wurde er
Der Vater gab jedem der Kinder ein Geldstück,
kaum zwei Schritte weit von ihm stand: „Wie
von seinem Verwandten betrogen; und als er an
heißt du?“
und jedes durfte das seine in den Hut des
einem schwülen Augusttag auf freiem Felde vom
Bettlers werfen. Geronimo neigte jedesmal den
„Geronimo.“
Schlag getroffen hinsank und starb, hinterließ
Kopf zum Dank. Der älteste Knabe sah dem
„Nun, Geronimo, laß dich nur nicht betrügen.“
er nichts als Schulden. Das kleine Anwesen
Blinden mit ängstlicher Neugier ins Gesicht.
In diesem Augenblick erschien der Kutscher auf
wurde verkauft, die beiden Brüder waren
Carlo betrachtete den Knaben. Er mußte, wie
der obersten Stufe der Treppe.
obdachlos und arm und verließen das Dorf.
immer beim Anblick solcher Kinder, daran
„Wieso, gnädiger Herr, betrügen?“
denken, daß Geronimo gerade so alt gewesen
Carlo war zwanzig, Geronimo fünfzehn
„Ich habe deinem Begleiter ein Zwanzig¬
war, als das Unglück geschah, durch das er das
Jahre alt. Damals begann das Bettel= und
Frankstück gegeben.“
Augenlicht verloren hatte. Denn er erinnerte
Wanderleben, das sie bis heute führten. Anfangs
„O Herr, Dank, Dank!“
sich jenes Tages auch heute noch, nach beinahe
hatte Carlo daran gedacht, irgendeinen Ver¬
„Ja; also paß auf.“
zwanzig Jahren, mit vollkommener Deutlichkeit.
dienst zu finden, der zugleich ihn und den Bruder
„Er
ist mein Bruder, Herr; er betrügt mich
Noch heute klang ihm der grelle Kinderschrei
ernähren könnte; aber es wollte nicht gelingen.
nicht.“
ins Ohr, mit dem der kleine Geronimo auf den
Auch hatte Geronimo nirgend Ruhe; er wollte
Rasen hingesunken war, noch heute sah er die
Der junge Mann stutzte eine Weile, aber
immer auf dem Wege sein.
Sonne auf der weißen Gartenmauer spielen
während er noch überlegte, war der Kutscher auf
Zwanzig Jahre war es nun, daß sie auf Stra¬
und kringeln und hörte die Sonntagsglocken
den Bock gestiegen und hatte die Pferde ange¬
ßen und Pässen herumzogen, im nördlichen
wieder, die gerade in jenem Augenblick getönt
trieben. Der junge Mann lehnte sich zurück mit
Italien und im südlichen Tirol, immer dort, wo
hatten. Er hatte wie oftmals mit dem Bolzen
einer Bewegung des Kopfes, als wollte sagen:
eben der dichtere Zug der Reisenden vorüber¬
nach der Esche an der Mauer geschossen, und als
Schicksal, nimm deinen Laufl und der Wagen
strömte.
fuhr davon.
er den Schrei hörte, dachte er gleich, daß er den
Und wenn auch Carlo nach so vielen Jahren
kleinen Bruder verletzt haben mußte, der eben
Der Blinde winkte mit beiden Händen lebhafte
vorbeigelaufen war. Er ließ das Blasrohr aus
nicht mehr die brennende Qual verspürte, mit
Gebärden des Dankes nach. Jetzt hörte er Carlo
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der ihn früher jedes Leuchten der Sonne, der
den Händen gleiten, sprang durchs Fenster in
der eben aus der Wirtsstube kam. Der rief
den Garten und stürzte zu dem kleinen Bruder
Anblick jeder freundlichen Landschaft erfüllt
herunter: „Komm, Geronimo, es
heroben, Maria hat Feuer gemacht!“
hatte es war doch ein stetes nagendes Mitleid
hin, der auf dem Grase lag, die Hände vors Ge¬
in ihm, beständig und ihm unbewußt, wie der
Geronimo nickte, nahm die Gitarre unter den
sicht geschlagen, und jammerte. Ueber die rechte
Schlag seines Herzens und sein Atem. Und er
Wange und den Hals floß ihm Blut herunter.
Arm und tastete sich am Geländer die Stufen
war froh, wenn Geronimo sich betrank.
In derselben Minute kam der Vater vom Felde
hinauf. Auf der Treppe schon rief er: „Laß es
heim, durch die kleine Gartentür, und nun
mich anfühlen! Wie lang hab' ich schon kein
Der Wagen mit der deutschen Familie war da¬
Goldstück angefühlt!
knieten beide ratlos neben dem jammernden
vongefahren. Carlo setzte sich, wie er gerntat, auf
Kinde. Nachbarn eilten herbei; die alte Vanetti
„Was gibt's?“ fragte Carlo. „Was redest
die untersten Stufen der Treppe, Geronimo aber
du da?“
war die erste der es gelang, dem Kleinen die
blieb stehen, ließ die Arme schlaff herabhängen
Geronimo war oben und griff mit beiden
Hände vom Gesicht zu entfernen. Dann kam
und hielt den Kopf nach oben gewandt.
auch der Schmied, bei dem Carlo damals in der
Händen nach dem Kopf seines Bruders, ein
Maria, die Maad, kam aus der Wirtsstube.
Lehre war und der sich ein bißchen aufs Kurieren
Zeichen, mit dem er stets Freude oder Zärtlich¬
„Habt's viel verdient heut?“ rief sie hinunter.
keit auszudrücken pflegte. „Carlo, mein lieber
verstand; und der sah gleich, daß das rechte Auge
Carlo wandte sich gar nicht um. Der Blinde
Bruder, es gibt doch gute Menschen!“
verloren war. Der Arzt, der abends aus Po¬
bückte sich nach seinem Glas, hob es vom Boden
schiavo kam, konnte auch nicht mehr helfen. Ja,
„Gewiß,“ sagte Carlo. „Bis jetzt sind es zwei
auf und trank es Maria zu. Sie saß manchmal
er deutete schon die Gefahr an, in der das andere
Lire und dreißig Zentesimi; und hier ist noch
abends in der Wirtsstube neben ihm; er wußte
österreichisches Geld, vielleicht eine halbe Lira.“
Auge schwebte. Und er behielt recht. Ein Jahr
auch, daß sie schön war.
später war die Welt für Geronimo in Nacht ver¬
„Und zwanzig Franken — und zwanzig Fran¬
Carlo beugte sich vor und blickte gegen die
sunken. Anfangs versuchte man, ihm einzureden,
ken!“ rief Geronimo. „Ich weiß es
daß er später geheilt werden könnte, und er
Straße hinaus. Der Wind blies, und der Regen
torkelte in die Stube und setzte sich schwer auf
schien es zu glauben. Carlo, der die Wahrheit prasselte, so daß das Rollen des nahenden die Bank.