I, Erzählende Schriften 9, Der blinde Geronimo und sein Bruder, Seite 10

„Die Welt=Literatur“ 1917 Nr. 19 Arthur Schnitzler: Der blinde Gerontmo und sein brucker; der Ehrentag
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„Was weißt du?“ fragte Carlo.
sang; Carlo stand neben ihm, fassungslos. Was
Irgend etwas mußte er dagegen unternehmen...
„So laß doch die Späße! Gib es mir in die
Und er eilte zurück.
sollte er nur tunk Der Bruder glaubte ihm
— Und er
nicht! Wie war das nur möglick
Hand! Wie lang hab' ich schon kein Goldstück
Als er wieber in die Wirtsstube trat, lag Ge¬
in der Hand gehabt!“
betrachtete Geronimo, der mit zerbrochener
ronimo auf der Bank ausgestreckt und schien das
„Was willst du denn? Woher soll ich ein
Stimme seine Lieder sang, angstvoll von der
Eintreten Carlos nicht zu bemerken. Maria
Seite. Es war ihm, als sähe er über diese
Goldstück nehmen? Es sind zwei Lire oder drei.“
brachte den beiden Essen und Trinken. Sie
Stirne Gedanken fliehen, die er früher dort nie¬
sprachen während der Mahlzeit kein Wort. Als
Der Blinde schlug auf den Tisch. „Jetzt ist
mals gewahrt hatte.
Maria die Teller abräumte, lachte Geronimo
es aber genug, genug! Willst du es etwa vor
Die Wagen waren schon fort, aber Geronimo
plötzlich auf und sagte zu ihr: „Was wirst du
mir verstecken?“
denn dafür kaufen?“
sang weiter. Carlo wagte nicht, ihn zu unter¬
Carlo blickte den Bruder besorgt und ver¬
brechen. Er wußte nicht was er sagen sollte, er
„Wofür denn?“
wundert an. Er setzte sich neben ihn, rückte ganz
fürchtete, daß seine Stimme wieder zittern
nahe und faßte wie begütigend seinen Arm:
„Nun, was? Einen neuen Rock oder Ohr¬
würde. Da tönte Lachen von oben, und Maria
„Ich verstecke nichts vor dir. Wie kannst du das
ringe?“
rief: „Was singst denn noch immer? Von mir
glauben? Niemundem ist es eingefallen, mir ein
„Was will er denn von mir?“ wandte sie sich
kriegst du ja doch nichts!“
Goldstück zu geben.“
an Carlo.
Geronimo hielt inne, mitten in einer Melo¬
„Aber er hat mir's doch gesagt!“
Indes dröhnte unten der Hof von lasten¬
„Wer?“
die; es klang, als wäre seine Stimme und die
beladenen Fuhrwerken, laute Stimmen tönten
Saiten zugleich abgerissen. Dann ging er
„Nun, der jurge Mensch, der hin= und herlief.“
herauf und Maria eilte hinunter. Nach ein
wieder die Stufen hinauf, und Carlo folgte ihm.
„Wie? Ich ver teh' dich nicht!“
paar Minuten kamen drei Fuhrleute und
In der Wirtsstube setzte er sich neben ihn. Was
„So hat er zu mir gesagt: „Wie heißt du?
nahmen an einem Tische Platz; der Wirk trat zu
sollte er tun? Es blieb ihm nichts anderes
und dann: „Gib acht, gib acht, laß dich nicht be¬
ihnen und begrüßte sie. Sie schimpften über
übrig: er mußte noch einmal versuchen, den
trügen!“
das schlechte Wetter.
Bruder aufzuklären.
„Du mrßt geträumt haben, Geronimo — das
„Heute Nacht werdet ihr Schnee haben,“ sagte
„Geronimo“ sagte er, „ich schwöre dir
ist ia Unine
der eine.
„Unsinn". Ich hey' es doch gehört, und ich
bedenk doch, Geronimo, wie kannst du glauben,
Der zweite erzählte, wie er vor zehn Jahren
daß ich —
höre gut, duß dich nicht betrügen; ich habe
Mitte August auf dem Joch eingeschneit und bei¬
ihm ein Golbstück ..
sagte er:
nein,
so
Geronimo schwieg, seine toten Augen schienen
nahe erfroren war. Maria setzte sich zu ihnen.
„Ich habeihm ein Zwanzig=Frankstück gegeben.“
durch das Fenster in den grauen Nebel hinaus¬
Auch der Knecht kam herbei und erkundigte sich
Der Wirt kam herein. „Nun, was ist's mit
zublicken. Carlo redete weiter: „Nun, er braucht
nach seinen Eltern, die unten in Bormio
euch? Habt ihr das Geschäft aufgegeben? Ein
ja nicht wabnsinnig gewesen zu sein, er wird sich
wohnten.
geirrt haben.
Vierspänner is gerade angefahren.“
er hat sich geirrt
Jetzt kam wieder ein Wagen mit Reisenden.
Aber er fühlte wohl, daß er selbst nicht glaubte,
„Komm!“ rief Carlo, „komm!“
Geronimo und Carlo gingen hinunter, Gero¬
was er sagte.
Geronime blieb sitzen. Warum denn?
nimo sang, Carlo hielt den Hut hin, und die
Geronimo rückte ungeduldig fort. Aber Carlo
Warum soh ich kommen? Was hilft's mir
Reisenden gaben ihr Almosen. Geronimo schien
denn? In Pehst ja dabei und
redete weiter mit plötzlicher Lebhaftigkeit:
jetzt ganz ruhig. Er fragte manchmal: „Wie¬
„Wozu sollte ich denn — du weißt doch, ich esse
Carlo berührte ihn am Arm. „Still, komm
viel?“ und nickte zu den Antworten Carlos leicht
jetzt hinunter!“
und trinke nicht mehr als du, und wenn ich mir
mit dem Kopfe. Indes versuchte Carlo selbst
Geronimo schwieg und gehorchte dem Bruder.
einen neuen Rock kaufe, so weißt du's doch.
seine Gedanken zu fassen. Aber er hatte immer
wofür brauch' ich denn soviel Geld? Was soll
Aber auf den Stusen sagte er: „Wir reden noch,
nur das dumpfe Gefühl, daß etwas Schreck¬
ich denn damit tun?“
wir reden noch!“
liches geschehen und daß er ganz wehrlos war.
Carlo begriff nicht, was geschehen war. War
Da stieß Geronimo zwischen den Zähnen her¬
Als die Brüder wieder die Stufen hinauf¬
Geronimo plötzlich verrückt geworden? Denn,
vor: „Lüg nicht, ich höre, wie du lügst!“
schritten, hörten sie die Fuhrleute oben wirr
wenn er auch leicht in Zorn geriet, in dieser
„Ich lüge nicht, Geronimo, ich lüge nicht!“
durcheinander reden und lachen. Der jüngste
Weise hatte er noch nie gesprochen.
sagte Carlo erschrocken.
rief dem Geronimo entgegen: „Sing uns doch
In dem eben angekommenen Wagen saßen
auch was vor wir zahlen schon! — Nicht wahr?“
Ehl hast du ihr's schon gegeben, ja? Oder
zwei Engländer; Carlo lüftete den Hut vor
wandte er sich an die anderen.
bekommt sie's erst nachher?“ schrie Geronimo.
ihnen, und der Blinde sang. Der eine Eng¬
Maria, die eben mit einer Flasche rotem Wein
„Maria?“
länder war ausgestiegen und warf einige
kam, sagte: „Fangt heut nichts mit ihm an, er
Münzen in Carlos Hut. Carlo sagte: „Danke“
Wer denn, als Maria? Eh, du Lügner, du
ist schlechter Laune.“
und dann, wie vor sich hin: „Zwanzig Zente¬
Dieb!“ Und als wollte er nicht mehr neben ihm
simi.“ Das Gesicht Geronimos blieb unbewegt;
Statt jeder Antwort stellte sich Geronimo
am Tische sitzen, stieß er mit dem Ellbogen den
er begann ein neues Lied. Der Wagen mit den
mitten ins Zimmer hin und fing an zu singen.
Bruder in die Seite.
zwei Engländern fuhr davon.
Als er geendet, klatschten die Fuhrleute in die
Curlo stand auf. Zuerst starrte er den Bruder
Hände.
Die Brüder gingen schweigend die Stufen
an, dann verließ er das Zimmer und ging über
hinauf. Geronimo setzte sich auf die Bank,
„Komm her, Carlo!“ rief einer, „wir wollen
die Stiege in den Hof. Er schaute mit weit
Carlo blieb beim Ofen stehen.
dir enser Geld auch in den Hut werfen wie die
offenen Augen auf die Straße hinaus, die vor
Leute unten!“ Und er nahm eine kleine Münze
„Warum sprichst du nicht?“ fragte Geronimo.
ihm in bräunlichem Nebel versank. Der Regen
und hien die Hand hoch, als wollte er sie in den
„Nun“ erwiderte Carlo, „es kann nur so sein,
hatte nachgelassen. Carlo steckte die Hände in
Hut fallen lassen, den ihm Carlo entgegen¬
wie ich dir gesagt habe.“ Seine Stimme zitterte
die Hosentaschen und ging ins Freie. Es war
streckte. Da griff der Blinde nach dem Arm des
ein wenig.
Fuhrmannes und sagte: „Lieber mir lieber
apongelante
* *
lhns war beur ur geschehen
„Was hast du gesagt?“ fragte Geronimo.
mir! Es könnte daneben fallen— daneben!“
es noch immer nicht fassen. Was für ein Mensch
„Es war vielleicht ein Wahnsinniger.“
„Wieso daneben?“
mochte das gewesen sein? Einen Franken schenkt
„Ein Wahnsinniger? Das wäre ja vortress¬
er her und sagt, es waren zwanzig! Er mußte
„Eh, nun! Zwischen die Beine Marias!“
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Wenn einer sagt: „Ich habe deinem
doch irgendeinen Grund dazu gehabt haben?...
Alle lachten, der Wirt und Maria auch, nur
Bruder zwanzig Franken gegeben', so
Und Carlo suchteein seiner Erinnerung, ob er
wahnsinnig!
Carlo stand regungslos da Nie hatte Gero¬
— Eh, und warum hat er gesagt:
sich nicht irgendwo jemanden zum Feind gemacht,
nimo solche Späße gemacht!.
„Laß dich nicht betrügen — eh?“
der nun einen anderen hergeschickt hatte, um
„Setz dich zu uns!“ riefen die Fuhrleute. „Du
„Vielleicht war er auch nicht wahnsinnig.
sich zu rächen ... Aber soweit er zurückdenken
aber es gibt Menschen, die mit uns armen
bist ein lustiger Kerl!“ Und sie rückten zu¬
mochte, nie hatte er jemanden beleidigt, nie
Leuten Späße machen ...“
sammen, um Geronimo Platz zu machen. Immer
irgendeinen ernsten Streit mit jemandem vor¬
lauter und wirrer war das Durcheinanderreden;
Eh!“ schrie Geronimo, „Späße? — Ja, das
gehabt. Er ha##e ja seit zwanzig Jahren nichts
Geronimo redete mit, lauter und lustiger als
hast du noch sagen müssen — darauf habe ich ge¬
anderes getan, als daß er in Höfen oder an
sonst, und hörte nicht auf zu trinken. Als
wartet!“ Er trank das Glas Wein aus, das vor
Straßenrändern gestanden war mit dem Hut in
Maria eben wieder hereinkam, wollte er sie an
ihm stand.
der Hand ... War ihm vielleicht einer wegen
sich ziehen; da sagte der eine von den Fuhr¬
eines Frauenzimmers böse?... Aber wie lange
„Aber, Geronimo!“ rief Caclo, und er fühlte,
leuten lachend: „Meinst du vielleicht, sie ist
hatte er schon mit keiner was zu tun gehabt...
daß er vor Bestürzung kaum sprechen konnte,
schön? Sie ist ja ein altes häßliches Weib!“
die Kellnerin in La Rosa war die letzte gewesen,
„warum sollte ich... wie kannst du glauben...?“
Aber der Blinde zog Maria auf seinen Schoß.
im vorigen Frühjahr...
aber um die war ihm
„Warum zittert deine Stimme... eh... wa¬
„Ihr seid alle Dummköpfe,“ sagte er. „Glaubt
gewiß niemand neidisch.
Es war nicht zu
rum?“
ihr, ich brauche meine Augen, um zu sehen? Ich
Was mochte es da draußen in
begreifen!...
„Geronimo, ich versichere dir, ich —
weiß auch, wo Carlo jetzt ist —
dort am
der Welt, die er nicht kannte, für Menschen
„Eh — und ich glaube dir nicht! Jetzt lachst
Ofen steht er, hat die Hande in den Hosentaschen
geben? ... Von überall her kamen sie . . . was
du . .. ich weiß ja, daß du jetzt lachst!“
und lacht.“
wußte er von ihnen?
Für diesen Fremden
**
Der Knecht rief von unten: „He, blinder
hatte es wohl irgendeinen Sinn gehabt, daß er
Alle schauten auf Carlo, der mit offenem
Mann, Leut' sind da!“
zu Geronimo sagte: Ich habe deinem Bruder
Munde am Ofen lehnte und nun wirklich das
zwanzig Franken gegeben... Nun ja ... Aber
Ganz mechanisch standen die Brüder auf und
Gesicht zu einem Grinsen verzog, als dürfte er
was war nun zu tun? ... Mit einemmal war es
schritten die Stufen hinab. Zwei Wagen waren
seinen Bruder nicht Lügen strafen.
offenbar geworden, daß Geronimo ihm mi߬
zugleich gekommen, einer mit drei Herren, ein
Der Knecht kam herein; wenn die Fuhrleute
anderer mit einem alten Ehepaar. Geronimo
trautel... Das konnte er nicht ertragen! noch vor Dunkelheit in Bormio sein wollten,