I, Erzählende Schriften 8, Die Toten schweigen, Seite 19

8. Die Toten schweigen


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Hermann Bahr
Hermann Bahr, geboren 1863 zu Linz, ist von Haus
aus Nationalökonom. Zwischen dem Individualismus einer
aristokratischen Künstlerfeele und dem Kollektivismus eines
Er begann mit dem Drama „Die neuen Menschen“ (1888),
das ein feiner Kenner, Edgar Steiger, als „den traurigen
Sang vom Uebergangsmenschen“ charakterisiert, „dessen Ge¬
banken der großen Zukunft, dem Erlösungswerke der Mensch¬
heit, gehören, während sich sein Herz mit allen Fasern an
die kleine Gegenwart, an das geliebte Weib, an das warme
Leben klammert“ — das rechte Präludium zu seinem
Lebenswerk. Dann kommt der Individualist unter den
Einfluß von Nietzsche und besonders Strindberg, verspottet
die Massenpolitiker mit Ibsen (La marqussa d'Amaegui
1888, „Die große Sünde“ 1889) und schreibt einen hyper¬
nervösen Roman voll Strindbergscher Weiberverachtung
und krankhafter Sinnlichkeit („Die gute Schule“ 1890).
Strindbergs „Vater“ gibt er die widerlich überkünstelte
„Mutter“ (1891) zur Seite. Aber an der Produktion findet
er kein Genüge. Individualitäten nachleben — das wird
für ihn die höchste Lebensfreude. Der damals in Schwung
kommende Kunstausdruck „suggerieren“ wird sein Lieblings¬
wort; er ist sich seiner Existenz nur bewußt, wenn und so¬
weit er sich von anderen, Dichtern, Malern, Politikern
Empfindungen und allenfalls Gedanken „suggerieren“ läßt.
So wird er zum hervorragendsten impressionistischen Kri¬
tiker Deutschlands. Zahlreiche Sammlungen („Zur Kritik
der Moderne“ 1890, „Die Ueberwindung des Naturalis¬
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mus“ 1891, „Renaissance“ 1897) bringen uns Porträts von
Größen und Scheingrößen der Zeit, oft mit Lenbachischer
Willkür stilisiert, immer geistreich, immer subjektiv wahr,
immer „suggestiv“. Er sucht das Wesen der „Moderne“
der nicht mehr entbehrliche Ausdruck stammt von Bahr —
er sucht aus dem Schatten des kommenden Gottes seinen
Umriß abzulesen. Dann berehrt sich der aristokratische In¬
dividualist wieder zum Diener der Vielen. „Der Mann hat
gehorchen gelernt. Er fühlt, daß die Welt nicht da ist, um
sein Mittel zu sein, sondern er für sie, um ihr Diener zu wer¬
den.“ Tendenzen sind jetzt die Hauptsache für ihn — nicht
mehr Individualitäten. Aber er faßt den Begriff der neuen
Zeit ganz lokal, persönlich: eine österreichische Kultur erklärt
er jetzt als sein Endziel. Der Schüler der französischen
Kritiker, Lemaitres vor allem, des ironischen Novellisten
Barrés Bewunderer, der Nachahmer der kleinen epigram¬
matischen Geschichten Maupassants („Caph“ 1894), wendet
sich jetzt ganz der einheimischen Tradition des Volksstücks
zu („Aus der Vorstadt“ mit Karlweis, 1893; „Das Tscha¬
perl“ 1898). — Innerhalb dieses weiten Umkreises, den
seine Tendenzen beschrieben, ist Bahr doch innerlich immer
derselbe geblieben: ein Virtuos des Nachempfindens, ein
Meister entzückender kleiner Stilkünste, und trotz diesen
scheinbar mit Größe unverträglichen Talenten ein Tempe¬
rament voll leidenschaftlicher Sehnsucht nach neuen Schön¬
heiten. — Wie Brentano ist der schöne liebenswürdige
Mann mit der unmodernen Künstlerlocke in der Stirn mehr
„Gedicht“ als „Dichter“: er ist eine formgewandte Elegie
mit witzigen eingelegten Pointen, ein immer von neuem
überraschendes Gedicht von Heine.
Aus Richard M. Meyer, Die deutsche Literatur des neunzehnten
Jahrhunderts (1900).
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