I, Erzählende Schriften 8, Die Toten schweigen, Seite 20

8. Die Toten schweigen
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Eine Probe von Bahrs glänzender Porträtierungs¬
kunst ist der nachfolgende kleine Aufsatz über Goethes
Mutter. Wer Bahr als Dichter kennen lernen will, der
greife zu den beiden köstlichen Milieuschilderungen „Der
Franzl, fünf Bilder eines guten Mannes“ (1900) und
„Der Krampus“ (1901). Die erste hat den oberöster¬
reichischen Volisdichter Franz Stelzhamer, die „Innviertler
Nachtigall“, zum Gegenstand, die zweite ist ein entzücken¬
des Idyll aus dem Wien der Wertherzeit. Beiden Stücken*)
einmal auf der intimen Bühne des Pfauentheaters zu be¬
gegnen, müßte ein ganz besonderer Genuß, nicht bloß für
literarische Feinschmecker sein. Der novellistischen Skizze
Bahrs „Die schöne Frau“ wird man von der Vorlesung
Marcell Salzers her an unserem Jung=Wien=Abend (1899)
mit Vergnügen sich erinnern. Unter den neueren drama¬
tischen Werken Bahrs seien genannt „Der Meister“ (1903),
„Der arme Narr“ (1905), „Die gelbe Nachtigall“ (1908),
unter den kritischen die Sammlungen „Bildung“ (1900)
und „Premièren“ (1901), der „Dialog vom Tragischen“
(1903) und „Josef Kainz“ (1905).
*) Den „Franzl“ hat vor einigen Jahren Herr Spyridon Sar¬
toris in unserem Literarischen Klub vorgelesen.
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Die Mutter
(Zum hundertsten Todestage der Frau Rat)
Von Hermann Bahr
Goethe war fünfundzwanzig Jahre alt, als Fritz Jakobi
von ihm schrieb: „Goethe ist ein Besessener, dem fast in
keinem Falle gestattet ist, willkürlich zu handeln... Hie¬
mit will ich nicht andeuten, daß keine Veränderung und
Besserung in ihm möglich ist. Aber nicht anders ist sie
ihm möglich, als so wie die Blume sich entfaltet, die
Saat reift, Eie der Baum in die Höhe wächst und sich
krönt.“ Und als Goethe achtundvierzig Jahre alt war,
schrieb Schiller über ihn: „Während wir anderen mühselig
sammeln und prüfen müssen, um etwas Leidliches lang¬
sam hervorzubringen, darf er nur leise an dem Baume
schütteln, um sich die schönsten Früchte reif und schwer zu¬
fallen zu lassen.“ Immer ist es derselbe Vergleich, der sich
den erstaunten, halb erschrockenen Freunden aufdrängt,
immer ist es dasselbe Bild, von einem, an dem nichts
menschliche Mühe oder die Anstrengung des Willens, alles
das unabänderliche Walten einer tief verborgenen Kraft
hat, der den Elementen mehr als uns Menschen gleicht,
der außerhalb der Menschheit zu stehen scheint, näher an
der Natur, mit ihr durch ein geheimnisvolles Band ver¬
knüpft, von dem die anderen sich losgerissen haben. Immer
hören wir die Freunde in Angst über ihn klagen, sein Wesen
habe keinen Plan. Er aber, in seinem vorstrebend heiteren
Sinn, läßt sie schelten, läßt sich gehen, bald feierlich wie
ein Licht, bald amüsable wie ein Mädchen von siebzehn,
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