I, Erzählende Schriften 8, Die Toten schweigen, Seite 38

8. Die Toten schweigen
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Euling Karl, Studien über Heinrich Kaufringer.
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Zeitschrift für deutsche Philologie 19, 227; Schade, Englische Studien
25, 14 ff.; Stiefel, Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 8, 71—82,
10, 71—80; auch Theobald Hock, Schönes Blumenfeld (Neudrucke 151/9)
Nr. 77, S. 66—70; Jörg Wickram, Rollwagenbüchlein Nr. 276; R.
Schmidt, Sukasaptati 1899, S. 49 ff.
„Der blinde Ehemann“ ist wieder nur ein Teil des umfassenderen
Typus, „Proben der Männergeduld“, den Kaufringer auch in Nr. 11
und Nr. 13 verwertet hat. Von drei Frauen soll jene den Preis (ge¬
fundener Ring, übrigbleibender Heller 2c.) erhalten, die ihrem Manne
den schlimmsten Streich spielt; diese Streiche sind verschiedene, z. B. dem
Manne einen gesunden Zahn ausziehen (Decamerone VII, 9; Varnhagen,
a. o. O.; Bolte, Schumann Nachtbüchlein 386, Anmerkung 1; Frey,
Gartengesellschaft 277; Schade, Englische Studien 25, 26, 31; Wesse¬
lossky, Archiv für slavische Philologie 6, 519 Anmerkung; Deway, Zeit¬
schrift für vergleichende Literaturgeschichte 9, 494, außer der von Euling
S. 79—82 angeführten Literatur) oder einem Dummkopf glauben machen,
er sei gestorben (Decamerone III, 8, dazu Hans Sachs, Fabeln und
Schwänke (Neudrucke) 3, Nr. 22; Hausrath, Neue Jahrbücher für klassische
Philologie 1, 311, Anmerkung 2; Amalfi, Zeitschrift des Vereins für
Volkskunde 7, 377; Fränkel, Zeitschrift für vergleichende Literatur¬
geschichte 4, 69; Cloetta, Archiv für das Studium der neueren Sprachen
91, 51; Gaßner, Englische Studien 19, 455) oder die Frau berede
den Mann, die von ihr gewirkten, überaus kunstreichen, jedoch unsicht
baren Kleider anzuziehen, so daß er nackt ist, wobei man an die ähnliche
Geschichte der unsichtbaren Kleider, die nur ein ehelich Geborener oder
ein Wahrheitsfreund zu sehen vermag, erinnern kann: Eulenspiegel,
Histori 27; Conde Lucanor, herausgegeben von Knust Hirschfeld 1900,
265; Andersens Märchen übersetzt von Reuscher (1870) 255—260
Fulda, Talisman; Landau, Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte
12, 463; Bühne und Welt 1 969—975; Köhler, Kleine Schriften
3, 20; Hans Sachs, Fabeln Nr. 171.
Nr. 14. „Die unschuldige Mörderin“ ein weitverbreiteter Novellen¬
stoff, der von den Motiven der unterschobenen Braut und des unter¬
schobenen Bräutigams (siehe oben) ausgeht. Köhlers Abhandlung, auf
die Euling verweist, ist jetzt in den Kleinen Schriften 2, 393—399
neugedruckt. Der von Kaufringers Darstellung abweichende Anfang der
orientalischen Novelle, die sonst die Quelle bildet, nämlich der Tod des
Geliebten in den Armen der Geliebten kehrt bis in die moderne Literatur
wieder: Maupassant, Une ruse in der Sammlung M'e Fiti; Barbey,
Le rideau cramoisi in Les Diaboliques; Zedlitz, Zwei Nächte zu Valla¬
dolid (Castle, Alt=Wien 5, 101 f.); Schnitzler, Die Todten schweigen.
Nr. 15 erzählt die List einer klugen Frau, die ihren Buhlen vor
dem in die Kammer tretenden Ehemanne dadurch rettet, daß sie diesem
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Correspondants daus toutes les grandes villes
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Adresss:
07. 809
Dale:
(Die Toten schweigen.) Das ist eine tiefe Geschichte Arthy
Schnitzlers. Die Geschichte von der Ehebrecherin, die mit ihren
Herzensf#eund an einem nebligen Novemberabend eine Fiakerfahr
unternimmtsin den naßkalten Praterherbst. Es ist nämlich schor
eine Reihef von Jahren her, seit diese Geschichte geschrieber
wurde, und damals fuhr man noch im Fiaker. Aber der Kutscher
ist angesäufelt, sie Pferde scheuen und das Paar wird aus dem
Wagen geschleudert. Bleich und regungslos liegt der junge Manv
auf dem kfeuchten, mit gelben Blättern besäten Boden. De
Kutscher, rasch ernüchtert, eilt davon, um Hilfe herbeizurufen
Bei dem scheinbar Ohnmächtigen bleibt die junge Frau allein und
muß sich überzeugen, daß er tot ist. War es eine innere Ver¬
letzung, ein Herzschlag, einerlei. In ihr regt sich der feige Selbst¬
erhaltungstrieb. Sie läßt den Toten in Stich, eilt dem Prater¬
stern zu, wirft sich in einen Wagen und erreicht die Wohnung
des Gatten, bevor der Ahnungslose heimgekehrt ist. Jetzt, fühlt
sie sich sicher und geborgen, da sie jenem gegenüber sitzt im Schein
der abendlichen Lampe. Niemand wird erfahren, daß sie einem
anderen angehört hat. Die Toten schweigen. Sie glaubt, sie habe
es nur gedacht, aber sie hat es laut vor sich hin gesprochen und
der Gatte erhebt sich: Du wirst mir etwas zu gestehen haben!
Diese Schnitzler=Novelle ist jetzt in ein Anzengruber=Milieu über¬
tragen worden. Alberndorf bei Haugsdorf. Nicht allzuoft dürfte
dieser Ortsname anderswo ausgesprochen worden sein als in seiner
nächsten Umgebung. Haugsdorf? Da lächeln Weinbeißer beseligt.
Aber Alberndorf?! Diese kleine Ortschaft hat jetzt ihre Sens###
tion gehabt. Dort hat ein junger Bauernsohn den Stromtod ge¬
funden. Unter der Hochspannleitung war er entseelt zusammen¬
gesunken. Ein Opfer des elektrischen Schlages. War ein Mord
an ihm begangen worden? Hatte er selbst Hand an sich gelegt?
Beide Ansichten besaßen ihre leidenschaftlichen Verfechter. Aber
Sicherheit gab es nicht. Niemand hatte eine Ahnung, wie es
wirklich geschehen sei. Und das Geheimnis wäre unenträtselt ge¬
blieben, wenn nicht eine dritte Version aufgetaucht wäre. Das
munkelt man von Haus zu Haus, das schreit man schließlich
laut im Dorfwirtshaus: Der Hansel hat seinem Bruder
nach dem Leben getrachtet! Dem andern hat er eine Grube ge¬
graben und ist selbst hineingefallen. Jetzt erst hat sich die Eine
zum Wort gemeldet, die genau wußte, wie der Hergang gewesen
ist. Das war ein Bauernmädchen, die heimliche Geliebte des
unglücklichen jungen Menschen. Die hat nicht zugeben wollen,
daß das Andenken ihres toten Schatzes verunglimpft werde
Darum hat sie sich selbst geopfert, hat das Geheimnis enthüllt,
daß sie und der Tote ein Liebespaar gewesen sind. Die
strengen Eltern durften davon nichts wissen, und den Dorfklatsch
haben die beiden gescheut. Doch das Sprichwort sagt: Nichts
brennt so heiß wie heimliche Liebe, von der niemand was weiß.
Und die zwei wollten um jeden Preis zusammenkommen, und
weil kein neidisches Auge sehen sollte, wie der Bub zum Dirndl
fensterln ging, hat der Hansel das ganze Dorf in pechschwarze
Finsternis einzuhüllen geplant. Er hat einen Kurzschluß hergestellt
und ist dabei elend zugrundegegangen. Hero wartete vergeblich
auf ihren Leander. Nicht einmal seine LZeiche hat man ihr ge¬
bracht. Nicht einmal das kalte Antlitz des Toten durfte sie mit
ihren heißen Tränen netzen. Zuerst da hat sie wie die Professors¬
gattin bei Schnitzler sich vor Schmach und übler Nachrede gerettet
geglaubt. Die Toten schweigen. Aber wiederum war es die
Lebende, der sich das klärende Wort gewaltsam auf die Zunge
drängte. Die Bauerntochter in Alberndorf hat für ihren toten
Geliebten Zeugnis abgelegt, damit er nicht im Grabe grundlos
ein feiger Mordgeselle gescholten werde.