I, Erzählende Schriften 4, Der Witwer, Seite 2

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Der Witver

Wien, Dienstag
lph Wilbrandt:
Traum.
ur aus dem Traum oft allmälig,
mein Freund „Fridolin“ versicherte,
bickelter Geruchssinn zuerst zu er¬
n daß wir auch im Traum gar
èrer Geisteskräfte fortschreiten, davon
Zeit ein merkwürdiges Beispiel.
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kumend in größerer, hauptsächlich
(wer da war, ist mir gleich ent¬
befreundete Dame hatte ein Buch
und andere Damen „Verbotenes“
och ganz traumgerecht ein richtiges
tahl das Buch, um auch darin zu
ame sich näherte, versteckte ich es
wischen meinen Knien. Sie entdeckte
einfach fort und trug es hinaus.
ersten Augenblick bedauerlich, aber
aber erwachten in mir — natürlich
des Trauntes, doch in ganz ent¬
Allmäligreit — andere Gefühle.
tsein, daß diese Handlung der Dame
habe, dann, daß ich sie nicht so
in, daß ich mich schämte. Endlich
ideren Damen, rasch an Selbst¬
es schicke sich durchaus nicht,
inem Manne ein Buch verbiete
sie selber gelesen habe; ich sei ent¬
gefallen zu lassen; ja ich würde
die Dame nicht wiederkomme und
eine Hand lege. Die Andern begriffen
daß ich ganz im Rechte sei; denn eine
wind jener ersten nach, um sie mit dem
nd ich zweifelte nicht, daß sie kommen
kommen konnte, war ich aufgewacht
nicht zu verkennen, daß der Traum
ien war. Im richtigen, das heißt
schlafen offenbar die edleren Theile
höheren Geisteskräfte, die Errungen¬
wicklung; daher fühlen und denken
Kinder, die wir vormals waren
eistet in jedem Augenblicke nur, was
Wir fallen gleichsam (wie so oft auch
Wahnsinnige) in unsere frühere Werde¬
unser geschulter, erfahrener Verstand
wir leben wie phantasicvolle Kinder
t, die wir für die Wirklichkeit halten.
im Gehirn das Erwachen fort,
im
mälter, reifer, wir machen
ng durch, zu der wir im Leben
gen. Unsere Erfahrungen wachen auf,
ffindungen, unser höheres Selbstgefühl.
s Letzte: unser Lächeln über den
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Wiener Allgemeine Zeitung
Finiger niihr Kehr varinnen-war¬
Der Finger hatte nämlich unterwegs zu sich selbst gesagt:
„Was beginnt man da mit mir? Schließlich ist ein Heiliger
mehr als eine Herzogin und an ihr ist es, sich zu mir zu be¬
mühen.“
Und daraufhin war der Finger, seine kristallene Kapsel
mit sich führend, durch die Lüfte in seine Kirche zurückgekehrt,
wo ihn die Geistlichen andern Tags wieder fanden.
*
Herzogin Anna sah ein, daß sie zu dem Heiligen gehen
nüsse, da der Heilige sich weigerte, zu ihr zu kommen; und
deshalb kam sie trotz der Länge der Reise zu Saint-Jean-du¬
Doigt. Sie erschien mit pomphaftem Gepränge in der Kirche,
in Purpur und Brocat gekleidet und gefolgt von ihren Pagen
und Kammerfrauen. Und nachdem sie auf die widerstrebende
Reliquie einen Kuß gedrückt hatte, in welchem gleichzeitig In¬
brunst und Herablassung lag, erwartete sie mit Ruhe ihre
Genesung.
Die Genesung kam nicht.
Herzogin Anna bestand starrköpfig darauf.
Sie zahlte im Voraus die zwanzigtausend Goldthaler,
sie versprochen hatte.
die
Sie gelobte, ihre jungfräuliche älteste Tochter,
ein
Mädchen von großer Schönheit, in einem Bernardinerkloster
dem Dienste des Herrn zu weihen.
Sie gab Befehl, einen Häretiker, dessen Proceß seit
Monaten anhängig war, in aller Eile zu verurtheilen und
auf dem Platze zu Rennes zu verbrennen.
Sie ließ vor dem Reliquienschrein, der den Finger um¬
schloß, dreihundert Wachskerzen anzünden.
Aber ihr Leiden verließ sie nicht. Und mittlerweile er¬
langten um sie her alle Tage Handwerker, Bauern, Bettle¬
rinnen, Krüppel, Aussätzige und Landstreicher durch die
Macht des mitleidigen Fingers in einem Augenblicke ihre
Gesundheit wieder.
*
*
Herzogin Anna fragte alsdann einen alten, um seiner
Weisheit und Tugend willen berühmten Priester um Rath.
Aber warum,“ sagte sie, „verweigert mir der Heilige
mit solchem Eigensinn, was er all diesen Elenden gewährt,
um deren Leben sich Niemand kümmert?“
Sie selbst kümmern sich doch wenigstens darum,“ er¬

widerte der alte Priester. „Und da der Heilige sich herbeiläßt,
sie zu heilen, so geschieht es wohl, weil auch Gott sich um
ihr Leben kümmert und es ihm wohlgefällig ist, daß ihm
hienieden diese Armen dienen.“
Doch, wenn der Heilige an mir Antheil nehmen wollte,
versetzte die Herzogin, „fände er dabei nicht weit mehr Vor¬
theile, als wenn er sich mit all' dem Bettelvolk abgibt? Ich
bin mächtig und wäre nicht undankbar.“
Erkennt doch das Wesen dieses großen Propheten,
erwiderte der Greis. „Er war ein etwas rauher Heiliger
der niemals Reichthum und äußeres Gepränge beachtete. Er
trug ein Gewand aus Kameelhaaren und um seine Lenden
einen Gürtel aus Leder. Er nährte sich von Heuschrecken und
vildem Honig. Und er nahm mit Güte auf und taufte im
Wasser des Jordan die Demüthigen und Niederen. Aber
wenn er zu seiner Taufe die Phavisäer und Suddazäer
kommen sah, wies er sie mit harten Worten von sich, weil
er wußte, daß diese Leute Stolz im Herzen trugen und sich
für erhaben über die anderen Menschen hielten.“
*
25. December 1894.
Seite 3
Del Ergensrun, der storrisch halt
An zweifelhaftem Rechte,
Der Hochmuth, der rings auf der Welt
Nur Thoren sieht und Knechte;
Der Mißmuth, mit sich selbst in Streit,
Der finst're Trotz nicht minder,
Sind allesammt der Einsamkeit
Schmachvoll mißrath'e Kinder.
D'rum lasse Du in Deiner Brust
Nur ihre Töchter walten!
Die bösen Buben aber mußt
Du Dir vom Leibe halten.
Arthur Schnitzler:
Der Witwer.
Er versteht es noch nicht ganz; so rasch ist es ge¬
kommen.
An zwei Sommertagen ist sie in der Villa krank gelegen,
an zwei so schönen, daß die Fenster des Schlafzimmers, die
auf den blühenden Garten sehen, immer offen stehen konnten
und am Abend des zweiten Tages ist sie gestorben, beinahe
plötzlich, ohne daß man darauf gefaßt war. — Und heute hat
man sie hinausgeführt, dort über die allmälig ansteigende
Straße, die er jetzt vom Balcon aus, wo er auf seinem Lehn¬
stuhl sitzt, bis zu ihrem Ende verfolgen kann, bis zu den
niederen weißen Mauern, die den kleinen Friedhof umschließen,
auf dem sie ruht.
Nun ist es Abend; die Straße, auf die vor wenig
Stunden, als die schwarzen Wagen langsam hinaufrollten,
die Sonne herabgebrannt hat, liegt im Schatten; und die
weißen Friedhofsmauern glänzen nicht mehr.
Man hat ihn allein gelassen; er hat darum gebeten. Die
Trauergäste sind alle in die Stadt zurückgefahren; die Gro߬
eltern haben auf seinen Wunsch auch das Kind mitgenommen,
für die ersten paar Tage, die er allein sein will. Auch
m Garten ist es ganz still; nur ab und zu hört er ein
Flüstern von unten: die Dienstleute stehen unter dem Balcon
und sprechen leise mit einander. Er fühlt sich jetzt müde, wie
er es noch nie gewesen, und während ihm die Lider immer
und immer von Neuem zufallen, — mit geschlossenen Augen
sieht er die Straße wieder in der Sommergluth des Nach¬
mittags, sieht die Wagen, die langsam hinaufrollen, die Men¬
schen, die sich um ihn drängen, — selbst die Stimmen klingen
ihm wieder im Ohr.
Beinahe Alle sind dagewesen, welche der Sommer nicht
allzuweit weggeführt hatte, Alle sehr ergriffen von dem frühen
und raschen Tod der jungen Frau, und sie haben milde Worte
des Trostes zu ihm gesprochen. Selbst von entlegenen Orten
ind manche gekommen, Leute, an die er gar nicht gedacht;
und Manche, von denen er kaum die Namen kannte, haben
ihm die Hand gedrückt. Nur der ist nicht dagewesen, nach dem
er sich am meisten gesehnt, sein liebster Freund. Er ist frei¬
lich ziemlich weit fort — in einem Badeort an der Nordsee,
und gewiß hat ihn die Todesnachricht zu spät getroffen,
als daß er noch rechtzeitig hätte abreisen können. Er wird
erst morgen da sein können.
Richard öffnet die Augen wieder. Die Straße liegt nun
völlig im Abendschatten, nur die weißen Mauern schimmern
noch durch's Dunkel, und das macht ihn schauern. Er steht