gerin nehmen ihre Fabel aus Casanovas
Erinnerungen. Dieses Buch des buntesten
Geschehens und der tiefen Tragik ist uner¬
schöpflich für die Dichter. Keiner kann es
lesen, ohne den Anreiz zu empfinden, aus
dieser oder jener Periode des Weltlaufs
dieses höchst menschlichen Menschen ein Werk
zu formen, das fremdes Erleben mit eigenem
Genuß, eigener Enttäuschung verschmilzt.
Aber Casanovas Memoiren selbst
sind eine Dichtung von stärkerer Wirkung,
als alle Dramen und Novellen, die Teile
seines Lebens in neue Formen gegossen
haben. Seitdem erst in französischer und
italienischer, dann in deutscher Sprache diese
Selbstblographie des Abenteurers und Li¬
teraten der Nachwelt zugänglich geworden
ist, ist sein Ruhm immer mehr gewachsen.
Niemand beginnt die Lektüre, der sie nicht
bewegt, gerührt, vielleicht auch abgestoßen,
aber immer gespannt fortsetzte bis zum Ende
der neun starken Bände und dann nur des¬
halb enttäuscht wäre, weil die Kraft ihres
Verfassers nicht ausreichte, seinen Levens¬
gang bis zum bitteren Ende des Exils im
Waldsteinschen Schlosse in Dux zu erzählen.
Eine Dichtung der Wirkung nach sind
die Memoiren, sagte ich. Sind sie nur Dich¬
lung? Sind sie Dichtung und Wahrheit
vermischt? Hier ist die Aufgabe der Casa¬
nova=Philologie gestellt. Was bedeuten die
Erinnerungen als historisches Dokument?
Wie weit darf man ihnen vertrauen? Sie
bieten das lebendigste Bild des privaten Le¬
dens des achtzehnten Jahrhunderts. Aber
###es ein richtiges Bild? Und nahm Casa¬
nova wirklich die Stellung in diesem Leben
ein, die er sich selbst zuweist? Oder ist die
Erwähnung der eigenen Person in den
Kreis der wechselnden Umgebung verfälscht
durch das Versagen des Gedächtnisses,
durch die Eitelkeit des glänzenden Betrü¬
gers? Da der Glücksspieler, Verführer von
Profession und Literat, gewiß nicht ohne
Eitelkeit war.
Einen Teil der höchst reizvollen Auf¬
gabe, diese Fragen giltig zu beantworten,
hat der bekannte Schweizer Publizist Pierre
Grellet auf sich genommen; den Teil, der be¬
grenzt ist in den Beziehungen Casanovas
zu der Heimat Grellets. Was Casanova
von Erlebnissen in der Schweiz und mit
Schweizern in anderen Ländern ###
Groht.,
#t hier an der Hand des reichen archivari¬
schen Materials nachgeprüft, das jene Zeit
der Memoiren und vor allem der mit Eifer
und Liebe geführten Briefwechsel in großer
Fülle hinterlassen hat. Man staunt über die
gelehrte Akribie des Philologen Grellet, der
alle Quellen kennt; noch mehr aber über die
leichte Hand des Schriftstellers dessen Un¬
tersuchungen nie schleppend werden; über
das Talent des Kompilators, der aus so
schwer sich fügenden Komponenten eine Ar¬
heit voll Grazie und Charme zu bilden
wußte.
Um den Effekt des Buches vorweg zu
nehmen: was Casanova von der Schweiz
und von Schweizern erzählt, findet Grellet
im Wesentlichen richtig und von anderen
Zeitgenossen bestätigt. Wo Ungenauigkeiten,
Unstimmigkeiten in den Memoiren festzu¬
stellen sind, werden sie fast immer genügend
erklärt durch den großen Abstand der Zeit,
in der Cgsanova schrieb, von der, in der er er¬
lebte. Aber im ganzen empfängt man den
Eindruck, daß der Schilderer glanzvoller wie
beschämender Abenteuer kein Renommist,
sicherlich kein Lügner war, sondern zu so viel
anderen großen Eigenschaften auch die der
Wahrhaftigkeit besaß.
lauf der großen Kokotte Charpillon vor und
nach ihrer Beziehung zu dem Verfasser der
Erinnerungen kennen, da sie wie man aus
einem Polize bericht erfährt, die uneheliche
Tochter der unehelichen Tochter der Tochter
des Pfarrers von Ableutschen im Kanton
Bern und also eine Schweizerin war. Die
Maske vom Gesicht der Madame de M. aus
Solothurn wird gelüstet und die der schönen
Patviz erstochter Sara aus Bern. Leider
verhindert die Dezenz den gelehrten Casa¬
nova=Forscher, uns Näheres von der klugen
und kühnen Theologin Hedwig und ihrer
naiven Cousine Helene in Genf zu ver¬
raten, die gemeinschaftlich von Casanova in
die Freuden der Liebe eingeweiht wurden.
Aber daß auch diese Figuren historisch sind,
bewest Grellet, indem er den Namen des
späteren Gatten der so bereitwillig ver¬
führten Hedwig nennt.
Dieses wissenschaftliche und liebens¬
würdige Buch ist nicht nur brennend inter¬
essant für alle, die Casanova lieben und
bewundern: es ist auch eine erlesene Freude
für den Bibliophilen. In den Lausannner
Editions Spes erschienen, ist es auf schön¬
stem, holzfreiem Papier gedruckt und ge¬
schmückt mit reizenden Grayüren nach Bil¬
dein und Stichen des achtzehnten Jahr¬
hunderts, die Städte, Gegenden und Per¬
sonen aus Casanovas Schweizer Berichten
wiedergeden.
R. O.
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Erinnerungen. Dieses Buch des buntesten
Geschehens und der tiefen Tragik ist uner¬
schöpflich für die Dichter. Keiner kann es
lesen, ohne den Anreiz zu empfinden, aus
dieser oder jener Periode des Weltlaufs
dieses höchst menschlichen Menschen ein Werk
zu formen, das fremdes Erleben mit eigenem
Genuß, eigener Enttäuschung verschmilzt.
Aber Casanovas Memoiren selbst
sind eine Dichtung von stärkerer Wirkung,
als alle Dramen und Novellen, die Teile
seines Lebens in neue Formen gegossen
haben. Seitdem erst in französischer und
italienischer, dann in deutscher Sprache diese
Selbstblographie des Abenteurers und Li¬
teraten der Nachwelt zugänglich geworden
ist, ist sein Ruhm immer mehr gewachsen.
Niemand beginnt die Lektüre, der sie nicht
bewegt, gerührt, vielleicht auch abgestoßen,
aber immer gespannt fortsetzte bis zum Ende
der neun starken Bände und dann nur des¬
halb enttäuscht wäre, weil die Kraft ihres
Verfassers nicht ausreichte, seinen Levens¬
gang bis zum bitteren Ende des Exils im
Waldsteinschen Schlosse in Dux zu erzählen.
Eine Dichtung der Wirkung nach sind
die Memoiren, sagte ich. Sind sie nur Dich¬
lung? Sind sie Dichtung und Wahrheit
vermischt? Hier ist die Aufgabe der Casa¬
nova=Philologie gestellt. Was bedeuten die
Erinnerungen als historisches Dokument?
Wie weit darf man ihnen vertrauen? Sie
bieten das lebendigste Bild des privaten Le¬
dens des achtzehnten Jahrhunderts. Aber
###es ein richtiges Bild? Und nahm Casa¬
nova wirklich die Stellung in diesem Leben
ein, die er sich selbst zuweist? Oder ist die
Erwähnung der eigenen Person in den
Kreis der wechselnden Umgebung verfälscht
durch das Versagen des Gedächtnisses,
durch die Eitelkeit des glänzenden Betrü¬
gers? Da der Glücksspieler, Verführer von
Profession und Literat, gewiß nicht ohne
Eitelkeit war.
Einen Teil der höchst reizvollen Auf¬
gabe, diese Fragen giltig zu beantworten,
hat der bekannte Schweizer Publizist Pierre
Grellet auf sich genommen; den Teil, der be¬
grenzt ist in den Beziehungen Casanovas
zu der Heimat Grellets. Was Casanova
von Erlebnissen in der Schweiz und mit
Schweizern in anderen Ländern ###
Groht.,
#t hier an der Hand des reichen archivari¬
schen Materials nachgeprüft, das jene Zeit
der Memoiren und vor allem der mit Eifer
und Liebe geführten Briefwechsel in großer
Fülle hinterlassen hat. Man staunt über die
gelehrte Akribie des Philologen Grellet, der
alle Quellen kennt; noch mehr aber über die
leichte Hand des Schriftstellers dessen Un¬
tersuchungen nie schleppend werden; über
das Talent des Kompilators, der aus so
schwer sich fügenden Komponenten eine Ar¬
heit voll Grazie und Charme zu bilden
wußte.
Um den Effekt des Buches vorweg zu
nehmen: was Casanova von der Schweiz
und von Schweizern erzählt, findet Grellet
im Wesentlichen richtig und von anderen
Zeitgenossen bestätigt. Wo Ungenauigkeiten,
Unstimmigkeiten in den Memoiren festzu¬
stellen sind, werden sie fast immer genügend
erklärt durch den großen Abstand der Zeit,
in der Cgsanova schrieb, von der, in der er er¬
lebte. Aber im ganzen empfängt man den
Eindruck, daß der Schilderer glanzvoller wie
beschämender Abenteuer kein Renommist,
sicherlich kein Lügner war, sondern zu so viel
anderen großen Eigenschaften auch die der
Wahrhaftigkeit besaß.
lauf der großen Kokotte Charpillon vor und
nach ihrer Beziehung zu dem Verfasser der
Erinnerungen kennen, da sie wie man aus
einem Polize bericht erfährt, die uneheliche
Tochter der unehelichen Tochter der Tochter
des Pfarrers von Ableutschen im Kanton
Bern und also eine Schweizerin war. Die
Maske vom Gesicht der Madame de M. aus
Solothurn wird gelüstet und die der schönen
Patviz erstochter Sara aus Bern. Leider
verhindert die Dezenz den gelehrten Casa¬
nova=Forscher, uns Näheres von der klugen
und kühnen Theologin Hedwig und ihrer
naiven Cousine Helene in Genf zu ver¬
raten, die gemeinschaftlich von Casanova in
die Freuden der Liebe eingeweiht wurden.
Aber daß auch diese Figuren historisch sind,
bewest Grellet, indem er den Namen des
späteren Gatten der so bereitwillig ver¬
führten Hedwig nennt.
Dieses wissenschaftliche und liebens¬
würdige Buch ist nicht nur brennend inter¬
essant für alle, die Casanova lieben und
bewundern: es ist auch eine erlesene Freude
für den Bibliophilen. In den Lausannner
Editions Spes erschienen, ist es auf schön¬
stem, holzfreiem Papier gedruckt und ge¬
schmückt mit reizenden Grayüren nach Bil¬
dein und Stichen des achtzehnten Jahr¬
hunderts, die Städte, Gegenden und Per¬
sonen aus Casanovas Schweizer Berichten
wiedergeden.
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