II, Theaterstücke 26, (Komödie der Worte, 1), Komödie der Worte, Seite 117

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26.1. Kongedie der Norte zyklus
kung der Tatsachen statt befreienden Blitz. Wer den andern zu verstehen ver¬
mag, versteht ihn ohne Worte. Denn auch dort, wo keiner lügen will, lügt das
Wort für ihn. Schon dadurch, daß es für jeden ein anderes Bedeuten hat,
aus andern Bezirken kommt und mit dem gleichen Laut für Jeden innerlich Ver¬
schiedenes aussagt.
Und gerade diese verachteten Worte sind in den drei Stücken mit einer
Meisterschaft behandelt, die ihresgleichen sucht. (Was kein Widerspruch, son¬
dern Betätigung ungemeiner dichterischen Kraft und Objektivierung ist.) Die¬
ser Dialog glänzt und glitzert, funkelt in Geist und anmutiger Bosheit, be¬
zwingt in milder, verstehender Melancholie, und hat dabei eine Unmerklich¬
keit im unaufhaltsamen Vorrücken der dramatischen Substanz, gleich dem Zei¬
ger der Uhr, dessen Weiterschreiten das Auge kaum merkt, bis mit hallendem
Schlag die schicksalsschwere Stunde sich anzeigt. Diese Stücke bezwingen durch
ihre Kultur, ihre gepflegte Geistigkeit und duren das erlesene Menschentum,
das aus jedem ihrer Sätze schimmert, und dazu durch einen unglaublichen
Reichtum der Gestaltung: diese Menschen atmen, leben, stehen mit höchster
Evidenz da — und man lebt mit ihnen, wenn der Vorhang längst gefallen ist;
sie gehören fortan zu uns, man entsinnt sich ihrer wie nur irgend eines wirk¬
lichen Menschen, der in unseren Kreis getreten ist; ihr Schicksal geht uns
weiter an, sie bleiben uns nah und zugehörig. Manches Stoffliche daran mag
dürftig, manche Wendung künstlich wirken; aber doch nur auf den ersten Blick,
denn dann enthüllt sich der innere Reichtum dieser scheinbaren Einfachheit
und eine Natürlichkeit im höheren Sinn, deren freilich nur Menschen kompli¬
zierterer Art fähig sind. Merkwürdig sind die unbestimmten Schlüsse der drei
Komödien; man weiß nirgends mit voller Sicherheit, was mit diesen Ehepaaren
am nächsten Tag geschehen, ob Klara wirklich sterben wird, ob die anderen
wirklich beisammen bleiben werden oder ob der Zwang, der sie bisher aneinan¬
derband, dem Zwang einer stärkeren Wahrheit weichen wird ... Kein Zweifel,
daß die momentane Theaterwirkung unter dieser Unentschiedenheit leidet: das
Publikum liebt es, präzise Fakten mit nach Hause zu nehmen. Kein Zweifel
aber auch, daß gerade darin ein starker Reiz liegt, der Reiz des Verborgenen,
nur Geahnten, nicht mit Gewißheit Vorherzusehenden. Der gleiche Reiz, den
das Leben selber hat, in dem es nur ein präzises und endgültiges Faktum gibt:
den Tod.
Es sind noch mehr Gemeinsamkeiten in diesen drei Akten als das Problem
der Frau, deren eigentliches Leben abseits vom Sexuellen und von der
Liebe liegt, die schließlich ein Ende nehmen kann, während alles übrige,
was sie mit ihrem Manne verbindet und was das „eigentliche Wesen
ihrer Beziehung“ ausmacht, „unzerstörbar und unvergänglich bleibt.“ Der
Titel „Komödie der Worte“ enthüllt alles, was hinter den Ereignissen
steht; aber alle drei Stücke könnten ebenso den Titel des ersten oder
des zweiten tragen: jedes bringt eine scheinbare „Stunde des Erken¬
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