II, Theaterstücke 25, Professor Bernhardi. Komödie in fünf Akten (Ärztestück, Junggesellenstück), Seite 88

auf der Bahre lag. Der Tod des großen
kleinen Mannes, des Bahnbrechers von Ibsen
und Hauptmann, des Schöpfers jener Bühne,
die das moderne Theater aus einem Komö¬
dien= zu einem Menschenhaus umgewandelt
hat, ist ohne Zweifel das einschneidendste Er¬
eignis in der Theatergeschichte unserer Tage.
Das Gewicht des Verlustes wird sich in der
Zukunft nicht verringern. In der Zukunft, für
die Otto Brahm sein Gegenwartswerk ge¬
schaffen hat und die an seiner Schöpfung uns
belehren wird, daß der Schöpfer unersetzlich
ist. Alles kehrt wieder, nur nicht die In¬
dividualilät.
Die literarische Versuchsbühne, die kaum
geborene Tochter der Neuen Freien Volks¬
bühne, entdeckte einen neuen Dichter: Elsa
Torge. Sein Drama: „Das Urteil des
Salomo.“ Um die alttestamentarische Legende
von den zwei Müttern, die um den Besitz des
einen am Leben gebliebenen Kindes streiten
und um den Schiedsspruch des weisen Königs
hat eine Frau und Mutter ein modern emp¬
fundenes Problemstück geschrieben, das über¬
all dort, wo das persönliche Gefühl, die
subjektive Erfahrung der Verfasserin Aus¬
druck findet, mit starker Innerlichkeit fesselt.
Aber gerade das Problem, das darin besteht,
daß ein Weib zwischen seine Liebesleiden¬
schaft und seine Mutterliebe gestellt wird,
entgleitet den zur Gestaltung fremder
Menschenschicksale noch zu schwachen Händen.
Im Gegensatz zum Bibellext ist es bei Elsa
Torge die richtige Mutter, die Salomos
blutigen Schiedsspruch gutheißt. Hier verliert
sich das Drama in ungesunden Grübeleien.
Es war immerhin der Mühe wert, auf das
Talent Elsa Torges hinzuweisen, das sich
in dramatisch wirkenden Szenen und in einer
nicht gewöhnlichen, plastischen Sprache äußert.
Reinhardts zwei Bühnen löschten alte
Schulden an zwei dramatischen Dichtungen,
die seit Jahren in seiner Rüstkammer lagen
und in der Literatur schon bekannt sind.
Als Weihnachtsmärchen ging Maeterlincks
„Blauer Vogel“ mit einem blendenden Auf¬
gebot stil- und sinnvoller Ausstattungsfeerie
und getragen von den ersten Künstlern, in
Szene. Märchen? Gewiß hat der Traum
der kleinen Kinder des Holzknechtes, die von
der Fee ausgeschickt werden, den blauen
Vogel (das Glück) zu suchen, die Grund¬
struktur des Märchens. Daß sich den kind¬
lichen Seelen die Tiere und die Gegenstände
menschlich beleben, ist auch alter Märchen¬
brauch — und er stimmt überdies zu¬
sammen mit den reinsten Trieben Maeter¬
lincks, des naturforschenden Blumen= und
Bienendichters. Aber die hohen Gedanken,
die die Kleinen träumen, kamen niemals
auch im Schlafe nicht — in ein Kinder¬
hirn. Ein Märchen mag tiefe Weis¬
heit symbolisieren; aber die schöne Einfalt
verliert es nie. Des Dichters persönliche
Philosophie und die vier Kinderfüßchen:
das ist ein Zwiespalt. Überhaupt! Haben es
denn die glücklichen Kleinen nötig, das
Glück zu suchen?! Was als der Weisheit
Schluß am Ende langer Wanderung ent¬
deckt wird: daß in der Elternhütte, in der
wunschlosen Umfriedung der Kinder Glück
wohnt, das dachten wir doch schon im ersten
Augenblick, als wir Klein=Tyltyl und Klein¬
Mytyl im Bettchen liegen sahen... Wenn
dann etwas von den weiten Straßen schöner
Dichtergedanken uns ins Märchenland zu¬
rückführen konnte, so war es Humperdincks
liebliche, kindliche und meisterliche Musik.
Und es halfen auch die beiden Wunder¬
kinder aus Wien: Lia Rosen, die eine große
Künstlerin ist, aber den Knaben Tyltyl
spielte, als wäre sie mit Höschen geboren,
als wäre sie nie mit Schauspielerschminke
geschminkt worden; und das Theaterkind
Mathilde Danegger, das alle Herzen be¬
zwang, weil seine Kindesnatur so rein und
unverdorben schien.
Thomas Manns „Fiorenza“, die letzte
Novität der Kammerspiele, fiel jetzt erst vom
Aste und wirkte doch längst als Erisapfel
der Kritik. Einen großen dramatischen Stoff:
die Antithese von Geist und Natur, von
frommer Übersinnlichkeit und froher Sinn¬
lichkeit, den historischen Gegensatz der sloren¬
tinischen Medizeer und des Asketen und
Bußpredigers Savonarola, hat der Künstler¬
Dichter ganz individuell behandelt, indem
er aus dem Drama der Weltgeschichte einen
dialogisierten Essai machte. Es, nkeln und
es ruhen große Schönheiten in dem Buche;
wird versucht, das geschriebene Wort auf
der Bühne zur Tat zu machen, so empfindet
der Zuschauer vor allem den ahsoluten
Mangel an Dynamik.
Die Geschichte der Theatersensationen
ist um ein trauriges Kapitel reicher ge¬
worden. Man wird einst auf den lärmigen
Erfolg, den Sudermanns Stück „Der gute
Ruf““ im Jahre des Heils 1913 davontrug,
hinweisen, wenn man den Tiefstand eines
Zeitgeschmacks anprangert. Aber, wie immer
in solchen Fällen, wird man dabei Unrecht
haben — anderen Zeitgeschlechtern zu viel
Ehre geben, dem unserigen zu viel Ehre
nehmen. Verstand und Reinlichkeit waren
stets die Vorzüge der einzelnen, nicht der
vielen. Mehr als hundert deutsche Bühnen
haben sich nun sofort das Sudermannsche
Schauspiel gesichert, das mit seltener Ein¬
mütigkeit von der literarischen Kritik als
die künstlerische Prostitution eines Mannes,
der doch auch dereinst mit seinem Gotte
ehrlich gerungen hat, zum Kehricht geworfen
wurde. Mehr als hundert, auf die Pöbel¬
instinkte spekulierende Bühnen ...! Wen
das erschüttert, für den hat Goethe ver¬
gebens gesprochen:
„Übers Niederträchtige
Niemand sich beklage,
Denn es ist das Mächtige,
Was man dir auch sage.“
Hermann Sudermann glaubt sicher selbst
nicht mehr an seinen künstlerischen Willen.
Man mag nicht mit Sudermann über seine
weiblichen Ideale rechten. Sie passen zu
einer „Weltanschauung“, die diesen Ritter
Georg bestimmte, den Drachen der Medisanz
zu bespötteln und ihm am Ende eine Heka¬
tombe der Ehrfurcht darzubringen ... Es
war nicht überraschend, die Gesellschafts¬
kritik Sudermanns bei solchem Bankerott
angelangt zu sehen; es war auch kaum ein
Wunder, daß die Gesellschaftstypen, die dem
Stück bei der Premiere Beifall zollten, mit
ihres Dichters sittlichem Ernst zufrieden
schienen.
Hermann Kienzl.