25. Prefessehad
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20 J.
Wien, Sam
Seite 2
+
00 Krahwintel.
—
Die neueste „Affäre“ von Wiener=Neu¬
stadt, weit davon entfernt, wichtig zu sein,
ist doch sehr charakteristisch für unser ganzes
Niveau. Das Neustädter Stadttheater führt
ein Stück eines unserer bedeutendsten Dra¬
matiker auf. Das Stück gilt als antiklerikal,
der in ganz Europa berühnte Dichter ist ein
Jude. Also darf das Werk nicht ruhig an¬
gehört werden. Von christlichsotzialen Zu¬
schauern nicht weil sie klerikal, von anti¬
klerikalen Deutschnationalen nicht, weil sie
Antisemiten sind. Wo käme man hin, wenn
man ruhig dasäße, wenn von der Bühne des
Stadttheaters die Stimme eines politisch
nicht Gebilligten spricht! Zwar spricht sie
ungemein überlegen, mit einem geistigen
Klang, der nicht niederzubrüllen ist — was
die „Studenten“ von Wiener=Neustadt, näm¬
lich die Schüler der fünf Mittelschulen, nicht
hindert, einen wüsten Radau zu machen.
Als er eine solche Theaterdemonstration
unreifer Studenten mit anhören mußte, ver¬
lor selbst Goethe bekanntlich einmal seine
olympische Ruhe und rief ins Parkett:
„Man lache nicht!“ Der sozialdemokratische
Vizebürgermeister Püchler, weniger olym¬
pisch, nennt die hoffnungsvolle Jugend als¬
bald: „Lausbuben!“ Wenn er in den Tiefen
seiner Seele etwa durch das Betragen der
„nationalen“ Bürgerjugend von Neustadt
zu diesem Urteil veranlaßt worden war,
hätte er es nicht so unzart aussprechen
sollen. Denn was geschieht am nächsten Tag?
In Anbetracht der Tatsache, daß sie sich
noch nicht genügend gebildet bewiesen hat,
und daß man es ihr gesagt hat —
wenig olympisch! — streikt die Mittel¬
schuljugend von Wiener=Neustadt und ent¬
zicht sich so die Möglichkeit, die Humaniora
kennen zu lernen, nämlich Respekt vor dem
Geistigen, Respekt vor jeder anständig vor¬
getragenen Meinung, gutes Betragen und
überhaupt jene geistige Freiheit, die den
gebildeten Europäer von einem Krähwinkler
Radaubruder unterscheidet.
Halt, Senat und Volk von Wiener=Neu¬
stadt, kein Grund zur Kränkung! Nicht Ihr
schätzenswertes Gemeinwesen wird hier
Krähwinkel genannt. Was in Neustadt ge¬
schah, war nur eine an sich belanglose
Teil=Krähwinkelei; die Gesamt=Krähwin¬
kelei heißt leider Deutschösterreich. Wir
führen uns leider alle miteinander die
ganze Zeit über so auf, wie die schlimmen
Buben von Wiener=Neustadt, können nicht
still sein im Parkett unserer bedeutenden
Schaubühne, wenn oben einer redet, der
uns nicht paßt. Das Trauerspiel, das auf
der Bühne des Großkrähwinkler Stadt¬
theaters gegeben wird, wird fortwährend
durch Schuljungenradau unterbrochen; um
ihn zu besänftigen, schreit eine herzhafte so¬
zialdemokratische Stimme immerzu das pä¬
dagogische Wort „Lausbuben!“ dazwischen.
So geht es nur in Krähwinkel zu,
einem Nest mit beschränktem geistigen
Horizont.
Und in der Fremdenloge sitzen gerade
einfkußreiche Herren, denen zu imponiefen
alle Krähwinkler den Ehrgeiz haben und
noch mehr das Bedürfnis. Sie sitzen in de
Loge, hören zu, wie einer den anderer
niederbrüllt, und denken sich was.
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Wien, Sam
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Die neueste „Affäre“ von Wiener=Neu¬
stadt, weit davon entfernt, wichtig zu sein,
ist doch sehr charakteristisch für unser ganzes
Niveau. Das Neustädter Stadttheater führt
ein Stück eines unserer bedeutendsten Dra¬
matiker auf. Das Stück gilt als antiklerikal,
der in ganz Europa berühnte Dichter ist ein
Jude. Also darf das Werk nicht ruhig an¬
gehört werden. Von christlichsotzialen Zu¬
schauern nicht weil sie klerikal, von anti¬
klerikalen Deutschnationalen nicht, weil sie
Antisemiten sind. Wo käme man hin, wenn
man ruhig dasäße, wenn von der Bühne des
Stadttheaters die Stimme eines politisch
nicht Gebilligten spricht! Zwar spricht sie
ungemein überlegen, mit einem geistigen
Klang, der nicht niederzubrüllen ist — was
die „Studenten“ von Wiener=Neustadt, näm¬
lich die Schüler der fünf Mittelschulen, nicht
hindert, einen wüsten Radau zu machen.
Als er eine solche Theaterdemonstration
unreifer Studenten mit anhören mußte, ver¬
lor selbst Goethe bekanntlich einmal seine
olympische Ruhe und rief ins Parkett:
„Man lache nicht!“ Der sozialdemokratische
Vizebürgermeister Püchler, weniger olym¬
pisch, nennt die hoffnungsvolle Jugend als¬
bald: „Lausbuben!“ Wenn er in den Tiefen
seiner Seele etwa durch das Betragen der
„nationalen“ Bürgerjugend von Neustadt
zu diesem Urteil veranlaßt worden war,
hätte er es nicht so unzart aussprechen
sollen. Denn was geschieht am nächsten Tag?
In Anbetracht der Tatsache, daß sie sich
noch nicht genügend gebildet bewiesen hat,
und daß man es ihr gesagt hat —
wenig olympisch! — streikt die Mittel¬
schuljugend von Wiener=Neustadt und ent¬
zicht sich so die Möglichkeit, die Humaniora
kennen zu lernen, nämlich Respekt vor dem
Geistigen, Respekt vor jeder anständig vor¬
getragenen Meinung, gutes Betragen und
überhaupt jene geistige Freiheit, die den
gebildeten Europäer von einem Krähwinkler
Radaubruder unterscheidet.
Halt, Senat und Volk von Wiener=Neu¬
stadt, kein Grund zur Kränkung! Nicht Ihr
schätzenswertes Gemeinwesen wird hier
Krähwinkel genannt. Was in Neustadt ge¬
schah, war nur eine an sich belanglose
Teil=Krähwinkelei; die Gesamt=Krähwin¬
kelei heißt leider Deutschösterreich. Wir
führen uns leider alle miteinander die
ganze Zeit über so auf, wie die schlimmen
Buben von Wiener=Neustadt, können nicht
still sein im Parkett unserer bedeutenden
Schaubühne, wenn oben einer redet, der
uns nicht paßt. Das Trauerspiel, das auf
der Bühne des Großkrähwinkler Stadt¬
theaters gegeben wird, wird fortwährend
durch Schuljungenradau unterbrochen; um
ihn zu besänftigen, schreit eine herzhafte so¬
zialdemokratische Stimme immerzu das pä¬
dagogische Wort „Lausbuben!“ dazwischen.
So geht es nur in Krähwinkel zu,
einem Nest mit beschränktem geistigen
Horizont.
Und in der Fremdenloge sitzen gerade
einfkußreiche Herren, denen zu imponiefen
alle Krähwinkler den Ehrgeiz haben und
noch mehr das Bedürfnis. Sie sitzen in de
Loge, hören zu, wie einer den anderer
niederbrüllt, und denken sich was.