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25. Professor Bernhandi
Meiiinle-
8.4.37
Professor Bernhardi 2
Es ist der Vorzug und die Schwäche von Arthur Schnitzlers Komö¬
die, daß Professor Bernhardi kein „Held“ bleibt, trotzdem er Ge¬
legenheit hatte, einer zu werden. Er verweigerf — Jude in einem erz¬
katholischen Lande! — dem Priester den Zutritt zu einer Sterbenden,
damit sie von ihrem Schicksal nichts erfahre. Unheil, du bist im
Zuge; und es war kein kleines Kunststück des Technikers Schnitzler,
wie er dies Unheil sich hatte bereiten lassen. Gleich der erste Akt
weckt das Gefühl der Sicherheit, daß der Dichter die Welt, aus der
er ein Stück herausschnitzen, sein Stück herausschnitzlern will — näm¬
lich die Welt von Aerzten, von allerlei Aerzten, und von Oesterreich,
dem Vorkriegs-Oesterreich der hundert Sprachen und nicht ganz so
vielen Konfessionen — bis in ihre verräterischen Winzigkeiten kennt.
Es ist leicht, mit ein paar Fachausdrücken wie Sepsis, Tabes und Tu¬
mor die Atmosphäre eines Krankenhauses mitzuteilen. Weniger leicht
ist, von vierzehn Aerzten in jedem Akt diejenigen einzuführen, ohne
deren Besonderheiten keine Reibung, also kein dramatischer Dialog
entstünde, und diejenigen zurückzuhalten, die für die Steigerungen des
nächsten Aktes gebraucht werden. Schnitzler geht dabei mit einer Plan¬
mäßigkeit vor, die zu verfolgen ein Vergnügen ist. Erst allmählich lernt
man dieses Aerztekollegium in all seiner Buntheit kennen: die Klein¬
geister und die Enthusiasten, die Dunkelmänner und die Dünkel¬
männer, die echten und die falschen Biederleute, die Zionisten und
die Ueberläufer, die Antisemiten und die Misanthropen, die Chole¬
riker und die Phlegmatiker. Selbst diese hat der Fall Bernhardi auf¬
gestört. Wie jeder einzelne sich zu diesem Falle stellt, enthüllt ihn:
macht ihn verächtlich oder unerheblich oder liebenswert. Der will
Bernhardi halten, jener will ihn stürzen. Die Gegensätze platzen auf
einander. Es gibt in jedem Akt parlamentarische und unparlamenta¬
rische Redeschlachten, die das Interesse nicht sinken lassen, aber nie¬
mals ein Drama zustande brächten, wenn nicht auch Bernhardi von
dem Gelärm m: einen Konflikt getrieben würde, in den Konflikt, der
unvermeidlich ist: daß er an der Berechtigung seiner Handlungsweise
irre wird. Dieser Konflikt erfährt im Lauf der fünf Akte mannig¬
fache Wandlungen und Verschiebungen, Retardierungen und Auf¬
schwellungen, ohne die e; die fünf Akte gar nicht füllen könnte, und
er erfährt am Ende der fünf Akte eine Schlichtung, die im Residenz¬
Theater wahrscheinlich keinen Zuschauer befriedigt hat.
Die eine Hälfte dieser Zuschauer kam von Gutzkow und lbsen
und hatte sich nicht schlecht gefreut, mit welcher Kühnheit der Ge¬
sinnungsgenosse Thomas Stockmanns gegen jeden Zwang für die
Ueberzeugung des freien Mannes eingetreten war, mit welch strömen¬
der Beredsamkeit der Glaubensgenosse Uriel Acostas liberale Apercus
gegen die Kirche und für die Wissenschaft geformt — und zugleich
bestritten hatte, daß er das tue. Jetzt war man bitter enttäuscht, daß
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25. Professor Bernhandi
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Es ist der Vorzug und die Schwäche von Arthur Schnitzlers Komö¬
die, daß Professor Bernhardi kein „Held“ bleibt, trotzdem er Ge¬
legenheit hatte, einer zu werden. Er verweigerf — Jude in einem erz¬
katholischen Lande! — dem Priester den Zutritt zu einer Sterbenden,
damit sie von ihrem Schicksal nichts erfahre. Unheil, du bist im
Zuge; und es war kein kleines Kunststück des Technikers Schnitzler,
wie er dies Unheil sich hatte bereiten lassen. Gleich der erste Akt
weckt das Gefühl der Sicherheit, daß der Dichter die Welt, aus der
er ein Stück herausschnitzen, sein Stück herausschnitzlern will — näm¬
lich die Welt von Aerzten, von allerlei Aerzten, und von Oesterreich,
dem Vorkriegs-Oesterreich der hundert Sprachen und nicht ganz so
vielen Konfessionen — bis in ihre verräterischen Winzigkeiten kennt.
Es ist leicht, mit ein paar Fachausdrücken wie Sepsis, Tabes und Tu¬
mor die Atmosphäre eines Krankenhauses mitzuteilen. Weniger leicht
ist, von vierzehn Aerzten in jedem Akt diejenigen einzuführen, ohne
deren Besonderheiten keine Reibung, also kein dramatischer Dialog
entstünde, und diejenigen zurückzuhalten, die für die Steigerungen des
nächsten Aktes gebraucht werden. Schnitzler geht dabei mit einer Plan¬
mäßigkeit vor, die zu verfolgen ein Vergnügen ist. Erst allmählich lernt
man dieses Aerztekollegium in all seiner Buntheit kennen: die Klein¬
geister und die Enthusiasten, die Dunkelmänner und die Dünkel¬
männer, die echten und die falschen Biederleute, die Zionisten und
die Ueberläufer, die Antisemiten und die Misanthropen, die Chole¬
riker und die Phlegmatiker. Selbst diese hat der Fall Bernhardi auf¬
gestört. Wie jeder einzelne sich zu diesem Falle stellt, enthüllt ihn:
macht ihn verächtlich oder unerheblich oder liebenswert. Der will
Bernhardi halten, jener will ihn stürzen. Die Gegensätze platzen auf
einander. Es gibt in jedem Akt parlamentarische und unparlamenta¬
rische Redeschlachten, die das Interesse nicht sinken lassen, aber nie¬
mals ein Drama zustande brächten, wenn nicht auch Bernhardi von
dem Gelärm m: einen Konflikt getrieben würde, in den Konflikt, der
unvermeidlich ist: daß er an der Berechtigung seiner Handlungsweise
irre wird. Dieser Konflikt erfährt im Lauf der fünf Akte mannig¬
fache Wandlungen und Verschiebungen, Retardierungen und Auf¬
schwellungen, ohne die e; die fünf Akte gar nicht füllen könnte, und
er erfährt am Ende der fünf Akte eine Schlichtung, die im Residenz¬
Theater wahrscheinlich keinen Zuschauer befriedigt hat.
Die eine Hälfte dieser Zuschauer kam von Gutzkow und lbsen
und hatte sich nicht schlecht gefreut, mit welcher Kühnheit der Ge¬
sinnungsgenosse Thomas Stockmanns gegen jeden Zwang für die
Ueberzeugung des freien Mannes eingetreten war, mit welch strömen¬
der Beredsamkeit der Glaubensgenosse Uriel Acostas liberale Apercus
gegen die Kirche und für die Wissenschaft geformt — und zugleich
bestritten hatte, daß er das tue. Jetzt war man bitter enttäuscht, daß
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