II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 39

re
denkliche und gleichmütige Gespräche über den Tod
und stellt Vermutungen über die Ursache des Selbst¬
mordes auf. Man glaubt allgemein, der Pianist
habe sich aus unbefriedigtem Ehrgeiz das Leben ge¬
nommen Nur Hofreitei ahnt einen andern Grund.
In einem Gespräch mit seiner Frau wird die Ahnung
zur Gewißheit. Der Pianist hat sich aus unglück¬
licher, hoffnungsloser Liebe zu Genio umgebracht
Sie selbst zeigt ihrem Mann einen Brief, den der
Pionist eine Stunde vor seinem Selbstmord an sie
gerichtet hat. In den übrigen Szenen des ersten
Aktes werden die sonstigen Figuren des Stückes ein¬
geführt: eine Frau Wahl und ihre Tochter Erna, ein
junges, kluges Mädchen, eine Schauspielerin und ihr
Sohn Otto, ein junger, sympathischer Marinefähn¬
rich, und ein Arzt Dr. Mauer. Hauptsächlich wird
aber das Verhältnis der beiden Ehegatten zueinander
charakterisiert: er betrügt sie fortwährend, und sie er¬
fährt alles. Aber es ist ihr egal; denn sie denk¬
nicht daron, sich zu rächen. Aber Hofreiter, ein merk¬
würdiger, komplizierter Mensch, kann die Episode
mit dem Pianisten nicht vergessen. Es ist ihm ein
unerträglicher Gedanke, daß jemand gestorben ist,
weil seine Frau so unerbittlich und tugendhaft war.
Er braucht einen Milieuwechsel und fährt in die
Dolomiten. Dort, in einem Hotel am Völser Weiher,
spielt der dritte Akt. Hier treffen mit Ausnahme
von Genia alle Figuren und noch einige Episoden
zusammen, und auch Hofreiter begegnet Erna, in
die er sich verliebt hat. In der Nähe des Ortes gibt
es einen Turm, den Aigenturm, von dem vor 15
Jahren ein Freund Hofreiters abgestürzt ist, und
seither hat sich niemand mehr getraut, den Turm zu
besteigen. Hofreiter wagt es und zwar in Gesell¬
schaft Ernas. Er will sich von seiner Frau scheiden
lassen, um Erna zu heiraten. Sie küssen sich, und
sie sagt ihm, daß er heute nacht ihre Tür offen
finden werde. Inzwischen hat Hofreiters Frau
Genia in Baden mit jenem Fähnrich ein Verhältnis
begonnen. Die Sache kommt Hofreiter in standa¬
löser Form zu Ohren, und obwohl ihm die Ange¬
legenheit ziemlich gleichgültig ist, muß er sich mit den
Fähnrich schlagen. Er erschießt ihn im Duell, und
damit ist das letzte Band zwischen den Ehegatter
zerrissen. Er will verschwinden, nach Amerika
irgendwo ins Unbekannte. Er fühlt sich zu alt, ei
weicht vor der Jugend, die er in dem Auge des
sterbenden Fähnrichs aufblitzen sah..
Man sieht, Schnitzler hat hier ein kühnes und
kompliziertes seelisches Problem zu lösen gesucht
Man vermag ihm auf seinen psychologischen Pfader
nicht immer leicht zu folgen, und manches dürfte au
das große Theaterpublikum seltsam und vielleich
en sogar befremdend wirken. Das ganze Stück ist vor
einer nachdenklichen, risignierten Stimmung erfüll
die man im ersten und vierten Akt am stärkster
spürt. Die packendste und dramatischste Szene des
Werkes enthält der fünfte Akt: Die Rückkehr Hof¬
reiters vom Duell und sein Zusammentreffen mit
der Mutter des Getöteten. Am meisten äußerliche
Bewegung und Handlung enthält natürlich der
dritte Akt, der in dem Dolomiten=Hotel spielt. Hier
gibt es auch sehr viel episodistisches Füllsel, von dem
manches ziemlich konventionell und lustspielmäßig an¬
mutet. Aber manche dieser Nebenfiguren sind sehr
eigenartig; zum Beispiel der philosophische und ge¬
bildete Hoteldirektor; dieser spricht auch das Leit¬
motiv des Stückes aus: Die Seele ist das weite
Land.
Das Burgtheater hat an das Werk — wie schon
aus der Generalprobe ersichtlich war
seinen
ganzen, noch immer großen darstellerischen Reichtum
und viel künstlerische Sorgfalt und Eifer gewendet.
Die ursprünglich Kainz zugedachte Hauptrolle spielt
Korff, sehr interessant, aber zu wenig durchgeistigt,
wodurch die Figur Hofreiters zu roh wirkt. Die
Genia ist eine jener passiven Frauenrollen, die dem
Fräulein Marberg so außerordentlich liegen. Das
junge Mädchen wird von Fräulein Hofteufel sehr
nett, der Fähnrich von Herrn Gerasch gespielt.. Aber
auch die kleinsten Rollen werden von den ersten
Künstlern dorgestellt; den Hoteldirektor, den Hart¬
mann hätte spielen sollen, gibt Devrient
die
Mutter des Fähnrichs Frau Bleibtreu — einen
Hotelportier Thimig (zugleich der Regisseur der
Vorstellung)
einen Bergführer Balajthy usw.
Eine außerordentliche Besetzung, wie sie nur für
Artur Schnitzler und nur vom Burgtheater aufge¬
oten=w#den kann!
Ausschnitt aus: Ge
STER LI 6Y
15 0I 19
vom:
„Das weite Land.“
(Telegramme des „Pester Lloyd“.)
Wien, 14. Oktober.
Arthur Schnitzlens Tragikomödie in fünf Akten
„Das werreLnd wurde heute bei ihrer Erst¬
aufführung im Burgtheater mit stürmischem, von Akt
zu Akt wachsendem Erfolg aufgenommen. Ein menschliches
Problem, die Angst vor dem Altwerden, bewegt die leb¬
hafte Handlung. Der gesellschaftliche Ton des Stückes übte
einen starken Reiz auf das Publikum und die vorzügliche
Darstellung brachte nahezu alle Intentionen des Dichters
zur Geltung. Wir kommen auf das Werk noch in ausführ¬
licher Besprechung zurück.
F. S.
Berlin, 14. Oktober.
Schnitzlers Tragikomödie „Das weite Land“
shatte heute bei ihrer Erstaufführung im Lessingtheater nun
schwachen Erfolg. Am Schluß dankte Brahm im
[Namen des Autors für den Applaus, der zunächst der
urefflichen Darstellung galt.
R. 12

Ausschnitt aus:
N „WIENER ZEITUNG:
vom:
Theater und Kunst.
(Hofburgtheater) Schnitzlers neues
Werk „Das weite Land“, eine Tragikomödie
n des Wortes tiefster Bedeutung, ist heute zum ersten
Mal in Szene gegangen. Ein Ehekonflikt, in dem der leicht¬
lebige Gatte der tugendhaften Frau einen Freibrief für
die Sünde ausstellt, der sie in die Arme eines anderen
treibt, während er, die Liebe eines jungen Mädchens
genießend, den Verführer vor seine Pistole stellt und
tötet — wie da zwei, die sich innerlich gehören
möchten, sich selbst immer mehr auseinandertreiben,
das wird mit einer fast Hebbelschen Dialektik und
bohrender Psychologie kühn bis zur schärfsten ab¬
schließenden Dissonanz geführt. Für heute kein Wort ##
weiter von den schweren Bedenken, die sich n¬
nentlich gegen starke Unklarheiten und den
dritten Akt, der das ganze Werk auf schiefe
nur die Bewunderung D#
Bahnen zu führen droht
für die große Durchgeistigung, die der Dichter seinen K
K
alten Gestalten und Motiven, von denen er auch hier
nicht loskommt, zu geben gewußt, und die Kunst eines
Dialoges, den ihm heute niemand nachschreibt, sei noch
ausgesprochen. Die Darstellung gab zum großen Teile 1#
Vorzügliches, Herr Korff hat sich selbst überboten,

doch ohne die geistige und leidenschaftliche Kraft seiner
Rolle völlig auszuschöpfen, Frl. Marberg war
von vornehmster Haltung, Frl. Hofteufel eine
echte, ehrlich=wahre Naive, doch auch dieses treffliche
Trio versagte einhellig vor den schwierigen Problemen
des letzten Aktes, der auch weniger als seine mit
größtem Jubel ausgenommenen Vorgänger durch¬
A. v. W.
zugreifen schien.