II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 104

box 28/2
24. Das weite-Land
Kha nen
üblich ist im Balkangebirge, er hat kurz vorher sein Landgut um ein
Tagebuch.
paar tausend Kronen verkauft, ist die Tage über in Schenken und
orrespondenten.)
Freudenhäusern gelegen, hat noch ein paar hundert Kronen in der
(Nachdruck verboten.]
Rocktasche. Ein Balkanheld im Katzenjammer! ...
So sehen doch
s man in diesem Herbst „Ereignis“
nicht die Elendsrevolteure aus!“ Aber mein Russe behielt das schiefe
llungen, alle Klatschgeschichten, alle
Maul. denn eben jene Einmischung der gar nicht Betroffenen, die Mit¬
hen großen schwarzen Abgrund der
wirkung der Dégenerés, berührte ihn heimatlich. Ich mußte an
lbdunkel der schon fast vergessenen
diesem Abend zu einer Operettenpremiere, das stimmt ja immer trist,
gte Massenszenen ins scharfe Licht
aber diesmal sah ich auch noch das grün=bleiche Gesicht meines Russen
immer das große Heerlager auf
vor mir und hörte seinen stillen Hohn: „Ihr russisiziert Euch“.
in starrer Linie, in der Sonne
gemergelte Vorstadtexistenzen, die
Nein, wir russisizieren uns nicht! Der eine Njegusch ist ein ver¬
(nicht glauben wöllen, daß diese
irrter Serbe, der momentan zu Hause, in Montenegro oder Serbien,
en! „Das Bild,or vier Wochen
keine rechte Betätigung finden kann. Sonst absorbiert irgendein
Seither sic die beiden Lager
Balkan=Königsmord dergleichen Phantasien, und wir an der Donau
mischen sich gemütlich ins Ge¬
haben Ruhl ... Es gibt einen deutlichen Beweis dafür, wie wenig
t. dennsche=ich werde das Bild der
russifiziert wir sind. In den letzten Wochen ist in Wien in aller Stille
eicht fühle: es wird wiederkehren.
eine Art Ausnahmsgericht geschaffen worden, und es hat Strafen ge¬
velchleiern will, ist glatt und
geben, wie wir sie in Oesterreich seit zwanzig Jahren nicht erlebten.
en lebt noch in ein paar Zeitungen
Weh dem, der in diesen Tagen eine Fensterscheibe zertrümmerte! Die
r dort! Das wirkliche Wien be¬
Gerichte hatten sich plötzlich einen eigenen Revolutionstarif angeschafft,
rgelten Vorstadtmenschen, die gar
wonach gebrochene Laternen mit gebrochenen Existenzen gesühnt wur¬
#atertinterln sind, sondern grad so
den. Die Wiener Revolte im September war eine große Aktion im
lberfeld=Barmen oder in Bochum
Interesse der notleidenden Glaserer. An Fensterscheiben und
die Säbel glänzen auf dem Wiener
Straßenlaternen erschöpfte sich der Ingrimm der Erregten. Keinem
leville oder in Treptow, und die
eleganten Herrn auf der Ringstraße wuxde auch nur der Zylinder
Kommando harrt, ist so gut öster¬
verwischt! ... Dennoch gab es furchtbare Urteile. Ein Jahr für eine
Wir Feuilletonisten werden über¬
zerschlagene Fensterscheibe, zwei Jahre für einen zum Schutz gegen
die reitende Polizei erhobenen Stock, sechs Monate für eine gebrochene
Gaslaterne. Es sollten Exempel statuiert werden! Als ob die vier Er¬
kjegusch Wawrak von der zweiten
schossenen, die in der Ottakringer Erde ruhn, nicht Exempel genug
den Justizminister schoß, begeg¬
wären!
dünnen Lippen verzogen sich zu
*
grüngelber Teint rötete sich für
Aus diesen Abschreckungsprozessen:
r habt gehofft, daß Rußland sich
Ein junger Mensch ist angeklagt: „Hoch die Revolution!“ gerufen
russifiziert Ihr Euch!“ Der stille
zu haben.
etzte mich hin und erklärte dem
„Sind Sie organisiert?“ fragt der Vorsitzende in allen diesen Pro¬
Sehen Sie denn nicht, wie falsch
zessen. Der Angeklagte, seit vier Wochen in Haft, antwortet offen:
t ein junger Serbe aus seinem
„Nein.“
rsteht fast kein Wort Deutsch, er
„Warum haben Sie denn „Hoch die Revolution“ gerufen?“
zur Waffe mit, wie das schon so
„I waß net.“
„Was stellen Sie sich denn unter Revolution vor?“
Verlegenheitspause.
„Nun, was denn?“
Endlich kommt eine Antwort: „A große Rauferei.“
Reden so politische Revolutionäre? Dennoch sind über diese „Gaudi¬
brüder“ im ganzen vierundfünfzig Jahre Kerker verhängt worden!
Das gemütliche Wien voll Theaterwichtigkeiten ist nicht mehr da.
Gestern hielten die Staatsbeamten große Versammlungen ab. Ge¬
haltserhöhung oder passive Resistenz! Morgen treten die Eisenbahner
zusammen! Uebermorgen versammeln sich die ergrimmten Haus¬
frauen, denn das argentinische Fleisch, das in Triest für die Wiener
bereit lag, mußte wieder abschwimmen. Und dann hält Herr v. Gautsch
eine Rede im Parlament, worin er den Arbeitern vorwirft, daß sie
zu viel Bedürfnisse haben. Wie besänftigendl . .. Das alles muß im
Auge behalten, wer seine Heimat liebt. Ein schwarzer, lichtloser
Winter liegt vor uns. Hunderte Obdachlose rennen in jeder Nacht,
klappernd vor Kälte, durch dieses einst gemütliche Wien. Draußen
am Gürtel sollen Holzbaracken errichtet werden für jene, die nirgends
unterkommen. Aber die Stadt sagt: „Ich hab kein Geld“, der Staat
sagt: „Das ist Sache der Gemeinde.“ Wieder taucht das so öster¬
reichische Wort auf: „Negativer Kompetenzkonflikt“, zu deutsch: „Das
geht mich nichts an“.
Aber die Kunst, die uns entrückt?
Scheene
icht in einem
Leufe
spielen f.,( ununterbrochen Tens—n
Ich weiß schon: Schnitzler ist jemand! Keiner schnitzelt so zart an
seinen Gestalten wie dieser Dichter. In seiner Welt ist er mensch¬
lich und nachdenklich! Sein „weites Land“ soll sein: die Seele des kom¬
plizierten Menschen, in der Liebe neben Trug, Treue neben Treulosig¬
keit, Ehe neben Ehebruch wohnt. Dieses Nebeneinander findet
Schnitzler — chaotisch, gut. Aber — weites Land? Ich finde diese
Weite bedrückend eng! Es ist das Land, wo man fast ununterbrochen
Tennis spielt!
Die Kunst, die entrückt. . ins Tennisland.
Ein schwarzer, lichkloser Winter liegt vor uns.
Stefan Crossmann.

nen Aranztsrus, Der 4