II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 114

We
24.—Land
noch rufsische, sondern ausschliehlich on
reichische Politik zu machen hatte, daß
sein einziges Bestreben war und sein mu
Österreich, und zwar Österreich allein, wie
groß und mächtig zu machen, es auf je
Platz zu stellen, den es durch Jahrhund
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Wangel dem Baumeister Solneß. Ganz
überzeugend ist ja ihre plötzliche Hingabe
an den Mann, der an den Schläfen ergraut
ist, nicht; sie behauptet zwar, ihn schon seit
sieben Jahren, das wäre also von ihrer
Kindheit an, zu lieben, und ein so frühes
Erwachen der Sinne könnten wir dieser
Bachantinnennatur wohl zutrauen. Es wird
aber so sein, wie im „Baumeister Solneß“
nämlich, daß Erna in dem von Jugend an
Geliebten den starken und rücksichtslosen
Willen, in dem sie sich mit ihm begegnet, in
der Gefahr der Verkümmerung sieht und ihn
nicht bloß lieben, sondern auch retten will;
jedenfalls ist sie in dieser Gesellschaft die
einzige unkomplizierte Figur, die an keinen
inneren Widersprüchen leidet und immer weiß,
was sie will. Kurz und gut, die beiden finden
sich auf einer Bergtour in einem Höhenrausche
zusammen und Erna selbst ist es, die dem
Manne in der nächsten Nacht im Hotel die
Türe offen stehen läßt und seinen späteren
Vorschlag, sich von seiner Frau scheiden zu
lassen und sie zu heiraten, ebenso unbedenk¬
lich zurückweist, wie sie früher den ernst ge¬
meinten Antrag eines einfachen Menschen,
des Doktor Mauer, zurückgewiesen hat, denn
es kommt ihr nur auf die Liebe und nicht
auf die Ehe an. Als die Gesellschaft bald
darauf wieder nach Baden zurückgekehrt ist,
zeigt es sich, daß die Gattin Friedrichs
inzwischen ihrem Manne besser zu Ge¬
fallen gelebt hat, indem sie einen jungen
Marinefähnrich, den Sohn des Doktor Aigner
und der Schauspielerin, nicht mehr hat in den
Tod gehen lassen, sondern ihn erhört und in
seinen nächtlichen Umarmungen zwar nicht
das Glück der Liebe genossen, aber das
Spiel der Liebe getrieben hat, freilich ohne
darüber innerlich ihrem noch immer geliebten
Gatten untreu zu werden, denn auch sie ist
inzwischen zu einer komplizierten Natur
herangereift. Und jetzt rafft sich auch der
Gatte zur Tat auf: zwar nicht aus Eifer¬
sucht oder aus Liebe zu Genia (so sagt er
wenigstens, wer weiß aber, ob wir ihm glauben
dürfen?) und ganz bestimmt nicht aus Haß
oder aus Wut gegen seinen Nebenbuhler,
sondern ganz einfach aus dem gesellschaft¬
lichen Vorurteil seiner Kaste, weil er kein
„Hopf““ sein will, fordert er seinen Neben¬
buhler. Genia glaubt zwar, daß dieses
Da es gewiß viele Zuhörer und Leser gibt, denen
das Schimpfwort nicht geläufig ist, bei dem sich sogar
unsere neuen Lexikographen nur auf Abelung zu berusen
wissen, sei diesem Gewährsmann das Wort erteilt: „Hopf¬
Schopf, siehe Wiedehopf. Neuangeworbene Soldaten
pflegen von den älteren aus Verachtung Hopfe oder
Strutze genannt zu werden, wo dieses Wort eben das
ist, was auf den Universitäten ein Pennal oder Fuchs,
bei den Böttchergesellen ein Ziegenschurz und bei den
Spitzbuben ein Wittstock ist.“
Duell ebenso verlaufen werde, wie die
meisten der heutigen; daß die Gegner an¬
einander vorbeischießen, sich dann die Hände
schütteln und in einem Protokoll werden
bestätigen lassen, daß der gesellschaftlichen
„Ehre“ genug geschehen sei, während es
sich doch nur um eine Fopperei gehandelt
hat; und anders hat es auch Friedrich wirk¬
lich gar nicht im Sinne gehabt. Da aber
kommt es zuletzt doch wieder aus den Un¬
tiefen des „weiten Landes“ herauf zur Kata¬
strophe: denn als Friedrich den Gegner mit
erhobener Waffe sich gegenüber sieht, zuckt
es in seinen Nerven und der brave Junge,
der nichts dafür kann, daß er in diese
schlechte Gesellschaft geraten ist, liegt tot
zu seinen Füßen ... Als Friedrich bei der
Rückkehr der ahnungslosen Mutter mit seiner
lachend boshaften Miene die Hand reicht,
wendet sich Genia endlich doch mit Grauen
von ihm ab: „Aus!“ Zwar will ihm Erna,
auch jetzt noch willensfest, in die neue Welt
folgen, aber Friedrich weist sie zurück: er
gehöre niemandem mehr auf der Welt. Da
hört er die Stimme seines eben aus Eng¬
land zurückkehrenden Knaben, der nach
Vater und Mutter ruft und nun erkennt er,
daß auch er noch jemand gehört und eilt in
seine Arme ...
Und nun fragen wir, ob das wirklich
das „weite Land“ ist, das Christomanos¬
Aigner gemeint haben kann? Ich glaube:
nein. Denn mit der Seele haben die Motive,
aus denen diese Personen handeln, gar nichts
zu tun; nicht einmal mit den ehrlichen Sinnen,
einzig und allein mit den Nerven, und zwar
mit zugrunde gerichteten Nerven. Das „weite
Land“ ist in Wahrheit nichts anderes als
der Bankerott des Herzens, der Nihilismus
der Seele. Es gibt doch noch ganz andere
Komplikationen und Konflikte, in denen sich
die freilich sehr komplizierte moderne Seele
windet. Es muß auch hier wieder gesagt
werden, daß man sich die Menschen zu
den Dialogen Schnitzlers nur schwer vor¬
stellen kann. Er gibt uns die Anweisung
zum Eintritt in das „weite Land“ in dem
ihm dann freilich alles erlaubt ist: denn er
braucht sich nur auf die Kompliziertheit der
menschlichen Seele zu berufen und jeder Ein¬
wand ist von vornherein entwaffnet. Seinem
Friedrich kann man in der Tat alles und
nichts zutrauen; er ist ein Bündel von Kom¬
pliziertheiten, ein Abstraktum, das der Dichter
mit allen möglichen Widersprüchen vollge¬
stopft, aber vergebens lebendig zu machen
gesucht hat; und nicht viel anders steht es,
die Nebensiguren ausgenommen, mit den
übrigen Personen. Darüber können uns auch
die oft sehr feinen Detailzüge nicht hinweg¬