Prolelarier wie ihre Genossen
verfeld=Barmen oder in Bochum oder
in Prag oder in Lyon. Und die Säbel
glänzen auf dem Wiener Franzensring
grad so wie in Belleville oder in Trep¬
tow, und die exakte Hab=acht=Stellung,
die auf's Kommando harrt, ist so gut
österreichisch wie deutsch, wie französisch.
Wir Feuilletonisten werden überflüssig
oder lächerlich.
Am Tage, da der Dalmariner Rjegusch
Wawvrak von der zweiten Gallerie des
Abgeordnetenhauses auf den Justiz=Mi¬
nister schoß, begegnete ich einem jungen
Russen. Seine dünnen Lippen verzogen
sich zu so was wie einem Lächeln, und
sein grüngelber Teint röthete sich für
einen Moment. Er sagte spitz: „Ihr
habt gehofft, daß Rußland sich euro¬
russi¬
päisirt, hehehe, inzwischen
fizirt Ihr Euch!“ Der stille Hohn ging
auf die Nevven. Ich setzte mich hin
und erklärte dem Manne mit den dün¬
nen Lippen: „Sehen Sie denn nicht,
wie falsch Ihr scharfes Auge sieht! Da
kommt ein junger Serbe aus seinem
dalmatinischen Nest herauf. Er versteht
fast kein Wort Deutsch, er bringt noch
den raschen Handgriff zur Waffe mit,
wie das schon so üblich ist im Balkan¬
gebirge, er hat kurz vorher sein Land¬
gut um ein paar tausend Kronen ver¬
kauft, ist „die Tage über in Schenken
und Freudenhäusern gelegen, hat noch
ein paar hundert Kronen in der Rock¬
tasche. Ein Balkanheld im Katzenjam¬
So sehen doch nicht die
mer!.
Elendsrevolteure aus!“
Aber mein
Russe behielt das schiefe Maul, denn
eben iene Einmischung der gar nicht
Betroffenen, die Mitwirkung der Dé¬
generes, berührte ihn heimathlich. Ich
mußte an diesem Abend zu einer Ope¬
rettenpremiere, das stimmt ja immer
trist, aber diesmal sah ich auch noch
das grün=bleiche Gesicht meines Russen
vor mir und hörte seinen stillen Hohn:
„Ihr russifizirt Euch“.
Nein, wir russifiziren uns nicht! Der
eine Niegusch ist ein verirrter Serbe,
der momentan zu Hause, in Montenegro
oder Serbien, keine rechte Bethätigung
finden kann. Sonst absorbirt irgend ein
Balkan=Königsmord dergleichen Phanta¬
ssien, und wir an der Donau haben Ruh!
Es giebt einen deutlichen Beweis
dafür, wie wenig russifizirt wir sind.
In den letzten Wochen ist in Wien in
aller Stille eine Art Ausnahmsgericht
geschaffen worden, und es hat Strafen
gegeben, wie wir sie in Oesterreich seit
zwanzig Jahren nicht erlebten. Weh
dem, der in diesen Tagen eine Fenster¬
scheibe zertrümmert! Die Gerichte hat¬
ten sich plötzlich einen eigenen Revolu¬
tionstarif angeschafft, wonach gebrochene
Laternen mit gebrochenen Existenzen ge¬
fühnt wurden. Die Wiener Revolte im
September war eine große Aktion im
Interesse der nothlendenden Glaser...
An Fensterscheiben und Straßenlaternen
erschöpfte sich der Ingrimm der Erreg¬
ten. Keinem eleganten Herrn auf der
Ringstraße wurde auch nur der Zylinder
verwischt! ... Dennoch gab es furcht¬
bare Urtheile. Ein Jahr für eine zer¬
schlagene Fensterscheibe, zwei Jahre für,
einen zum Schutz gegen die reitende Po¬
lizei erhobenen Stock, sechs Monate für
eine gebrochene Gaslaterne. Es sollten
Cxempel statuirt werden! Als ob die
vier Erschossenen, die in der Ottakringer
Erde ruhen, nicht Exempel genug
wären!
Aus diesen Abschreckungsprozessen.
t angeklagt:
Ein junger Mensch
„Hoch die Revolution!“ gerufen zu ha¬
ben.
„Sind Sie organisirt?“ fragt der
Vorsitzende in allen diesen Prozessen.
Der Angeklagte, seit vier Wochen in
Haft, antwortet offen:
„Nein.“
„Warum haben Sie denn „Hoch die
Revolution“ gerufen?“
„I waß net.“
„Was stellen Sie sich denn unter Re¬
volution vor?“
Verlegenheitspause.
i Ausschmitt aus:
150
Doutech-Oeterrele
VOHR
S
Wiener Theater-Bericht
S
SE
(Oktober.)
Se
Burgtheater. „Das weite Land“ eine Tragikomödie
von Artur.Schnitzler. Das Natürliche ist das Chaos —
in diesem Wort faßt der Dichter das Leitmotiv seines Werkes
zusammen. Wir versuchen in dem weiten Land unserer
Seele Ordnung zu schaffen, aber diese Ordnung ist eiwas
Künstliches, der erotische Instinkt geht unbeirrt seine will¬
kürlichen Bahnen. In dem Geschick von drei Ehen zeigt
Sch. die endlosen Varianten der Liebesleidenschaft: da ist
zuerst die Ehe Aigner. Tiefste, verstehendste Liebe vereint
die Gatten. Und doch betrügt er sie. Warum? Weil
die Menschen unverständlich kompliziert sind. Dann beichtet
er ihr in tiefer Wahrhaftigkeit und die zwei Menschen
müssen auseinander. Müssen, Gerade weil sie sich wirklich
lieben. Dieser Zug ist schön, echt poetisch und lebenswahr
zugleich. Dann sehen wir die Ehe Natter. Beide sind Genießer,
Durchschnittsmenschen. Er weiß sich von seiner Frau be¬
trogen, aber er schließt beide Augen, denn die Scheidung
würde die Störung seiner frohen Lebenslaune bedeuten. Das
ist nicht schön, aber leider wahr. Und endlich die Ehe Hof¬
reiter, deren Schicksal im Vordergrunde steht. Er, ein dä¬
monischer Frauengewinner, dessen Philosophie darin gipfelt,
daß nur im Liebesgenuß das starke Leben liegt — der
Beruf, der Ehrgeiz, die menschliche Kullur sind Pausen.
Seine Frau ist tugendhaft, mit dem ästhetischen Reinlich¬
keitsgefühl der Tugend. Ein Bewerber, den sie abweist, er¬
schießt sich. Ihr Gatte dankt ihr ihr keusches Versagen nicht.
Ihm ist sie eine Mörderin. Diese Auffassung wirkt auf sie
wie eine drosselnde Faust. Und als ein zweiter Liebhaber
zu ihren Füßen flehl, erhört sie ihn. Zagend, unfroh, aber
sie erhört ihn. Und da geschieht das Unerwartete, Hofreiter,
der Skeptiker, der Lehrer des fessellosen Genusses, der
Prediger unbändiger erotischer Freiheit, verfällt — fast wider
Willen — in die Allüren eines altmodischen Rächers der
Ehre, er erschießt den Gelieblen seiner Frau im Zweikampf.
„Man will doch schließlich nicht der Hupf sein“, so motiviert
er seine Gewalttal. Schnitzler hat die Geschichte dieser drei
Ehen zu einem erschütternden Drama verknüpft. Es ist ein
grausam kalter Spiegel, den diese Tragikomödie, in der der
Tod aus dem spielend eleganten Dialog hervorgrinst, unserm
frivolen Wienertum vorhält. Sch. will hier eine gewaltige
Lektion geben; wohl denen, die ihn verstehen und heraus¬
fühlen, daß alle diese Marionetten an unsichtbaren Fäden
hängen um daß der Handzug des Schicksals sie schließlich
zur Ocfhlung zwingl, die sie aus ihrem eigenen Innern heraus
nichyherzustellen vermögen. Nach dieser Kraftprobe wird
mn Schnitzler unter die Klassiker der erotischen Literatur g
Fnreihen müssen.
verfeld=Barmen oder in Bochum oder
in Prag oder in Lyon. Und die Säbel
glänzen auf dem Wiener Franzensring
grad so wie in Belleville oder in Trep¬
tow, und die exakte Hab=acht=Stellung,
die auf's Kommando harrt, ist so gut
österreichisch wie deutsch, wie französisch.
Wir Feuilletonisten werden überflüssig
oder lächerlich.
Am Tage, da der Dalmariner Rjegusch
Wawvrak von der zweiten Gallerie des
Abgeordnetenhauses auf den Justiz=Mi¬
nister schoß, begegnete ich einem jungen
Russen. Seine dünnen Lippen verzogen
sich zu so was wie einem Lächeln, und
sein grüngelber Teint röthete sich für
einen Moment. Er sagte spitz: „Ihr
habt gehofft, daß Rußland sich euro¬
russi¬
päisirt, hehehe, inzwischen
fizirt Ihr Euch!“ Der stille Hohn ging
auf die Nevven. Ich setzte mich hin
und erklärte dem Manne mit den dün¬
nen Lippen: „Sehen Sie denn nicht,
wie falsch Ihr scharfes Auge sieht! Da
kommt ein junger Serbe aus seinem
dalmatinischen Nest herauf. Er versteht
fast kein Wort Deutsch, er bringt noch
den raschen Handgriff zur Waffe mit,
wie das schon so üblich ist im Balkan¬
gebirge, er hat kurz vorher sein Land¬
gut um ein paar tausend Kronen ver¬
kauft, ist „die Tage über in Schenken
und Freudenhäusern gelegen, hat noch
ein paar hundert Kronen in der Rock¬
tasche. Ein Balkanheld im Katzenjam¬
So sehen doch nicht die
mer!.
Elendsrevolteure aus!“
Aber mein
Russe behielt das schiefe Maul, denn
eben iene Einmischung der gar nicht
Betroffenen, die Mitwirkung der Dé¬
generes, berührte ihn heimathlich. Ich
mußte an diesem Abend zu einer Ope¬
rettenpremiere, das stimmt ja immer
trist, aber diesmal sah ich auch noch
das grün=bleiche Gesicht meines Russen
vor mir und hörte seinen stillen Hohn:
„Ihr russifizirt Euch“.
Nein, wir russifiziren uns nicht! Der
eine Niegusch ist ein verirrter Serbe,
der momentan zu Hause, in Montenegro
oder Serbien, keine rechte Bethätigung
finden kann. Sonst absorbirt irgend ein
Balkan=Königsmord dergleichen Phanta¬
ssien, und wir an der Donau haben Ruh!
Es giebt einen deutlichen Beweis
dafür, wie wenig russifizirt wir sind.
In den letzten Wochen ist in Wien in
aller Stille eine Art Ausnahmsgericht
geschaffen worden, und es hat Strafen
gegeben, wie wir sie in Oesterreich seit
zwanzig Jahren nicht erlebten. Weh
dem, der in diesen Tagen eine Fenster¬
scheibe zertrümmert! Die Gerichte hat¬
ten sich plötzlich einen eigenen Revolu¬
tionstarif angeschafft, wonach gebrochene
Laternen mit gebrochenen Existenzen ge¬
fühnt wurden. Die Wiener Revolte im
September war eine große Aktion im
Interesse der nothlendenden Glaser...
An Fensterscheiben und Straßenlaternen
erschöpfte sich der Ingrimm der Erreg¬
ten. Keinem eleganten Herrn auf der
Ringstraße wurde auch nur der Zylinder
verwischt! ... Dennoch gab es furcht¬
bare Urtheile. Ein Jahr für eine zer¬
schlagene Fensterscheibe, zwei Jahre für,
einen zum Schutz gegen die reitende Po¬
lizei erhobenen Stock, sechs Monate für
eine gebrochene Gaslaterne. Es sollten
Cxempel statuirt werden! Als ob die
vier Erschossenen, die in der Ottakringer
Erde ruhen, nicht Exempel genug
wären!
Aus diesen Abschreckungsprozessen.
t angeklagt:
Ein junger Mensch
„Hoch die Revolution!“ gerufen zu ha¬
ben.
„Sind Sie organisirt?“ fragt der
Vorsitzende in allen diesen Prozessen.
Der Angeklagte, seit vier Wochen in
Haft, antwortet offen:
„Nein.“
„Warum haben Sie denn „Hoch die
Revolution“ gerufen?“
„I waß net.“
„Was stellen Sie sich denn unter Re¬
volution vor?“
Verlegenheitspause.
i Ausschmitt aus:
150
Doutech-Oeterrele
VOHR
S
Wiener Theater-Bericht
S
SE
(Oktober.)
Se
Burgtheater. „Das weite Land“ eine Tragikomödie
von Artur.Schnitzler. Das Natürliche ist das Chaos —
in diesem Wort faßt der Dichter das Leitmotiv seines Werkes
zusammen. Wir versuchen in dem weiten Land unserer
Seele Ordnung zu schaffen, aber diese Ordnung ist eiwas
Künstliches, der erotische Instinkt geht unbeirrt seine will¬
kürlichen Bahnen. In dem Geschick von drei Ehen zeigt
Sch. die endlosen Varianten der Liebesleidenschaft: da ist
zuerst die Ehe Aigner. Tiefste, verstehendste Liebe vereint
die Gatten. Und doch betrügt er sie. Warum? Weil
die Menschen unverständlich kompliziert sind. Dann beichtet
er ihr in tiefer Wahrhaftigkeit und die zwei Menschen
müssen auseinander. Müssen, Gerade weil sie sich wirklich
lieben. Dieser Zug ist schön, echt poetisch und lebenswahr
zugleich. Dann sehen wir die Ehe Natter. Beide sind Genießer,
Durchschnittsmenschen. Er weiß sich von seiner Frau be¬
trogen, aber er schließt beide Augen, denn die Scheidung
würde die Störung seiner frohen Lebenslaune bedeuten. Das
ist nicht schön, aber leider wahr. Und endlich die Ehe Hof¬
reiter, deren Schicksal im Vordergrunde steht. Er, ein dä¬
monischer Frauengewinner, dessen Philosophie darin gipfelt,
daß nur im Liebesgenuß das starke Leben liegt — der
Beruf, der Ehrgeiz, die menschliche Kullur sind Pausen.
Seine Frau ist tugendhaft, mit dem ästhetischen Reinlich¬
keitsgefühl der Tugend. Ein Bewerber, den sie abweist, er¬
schießt sich. Ihr Gatte dankt ihr ihr keusches Versagen nicht.
Ihm ist sie eine Mörderin. Diese Auffassung wirkt auf sie
wie eine drosselnde Faust. Und als ein zweiter Liebhaber
zu ihren Füßen flehl, erhört sie ihn. Zagend, unfroh, aber
sie erhört ihn. Und da geschieht das Unerwartete, Hofreiter,
der Skeptiker, der Lehrer des fessellosen Genusses, der
Prediger unbändiger erotischer Freiheit, verfällt — fast wider
Willen — in die Allüren eines altmodischen Rächers der
Ehre, er erschießt den Gelieblen seiner Frau im Zweikampf.
„Man will doch schließlich nicht der Hupf sein“, so motiviert
er seine Gewalttal. Schnitzler hat die Geschichte dieser drei
Ehen zu einem erschütternden Drama verknüpft. Es ist ein
grausam kalter Spiegel, den diese Tragikomödie, in der der
Tod aus dem spielend eleganten Dialog hervorgrinst, unserm
frivolen Wienertum vorhält. Sch. will hier eine gewaltige
Lektion geben; wohl denen, die ihn verstehen und heraus¬
fühlen, daß alle diese Marionetten an unsichtbaren Fäden
hängen um daß der Handzug des Schicksals sie schließlich
zur Ocfhlung zwingl, die sie aus ihrem eigenen Innern heraus
nichyherzustellen vermögen. Nach dieser Kraftprobe wird
mn Schnitzler unter die Klassiker der erotischen Literatur g
Fnreihen müssen.