II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 130

Am nächsten Morgen stand schon Herr Devrient genau an
jenen Stellen der Bühne, die Lartmann in den verschiedenen Situationen
ringenommen hatle, um als Doktor v. Aigner genau dieselben Worte
in derselben Haltung zu sprechen, die vor zwei Tagen Hartmann noch
gesprochen. Er machte dieselben Schritte, er lächelte, wie sein Vor¬
gänger gelächelt hatte, er hielt das blaue Rollenhest in der Rechten,
das Hartmann daheim aufs Nachtkästchen gelegt hatte, um noch vor
dem Einschlafen ein bischen hineinzuschauen und tiefer einzu¬
prägen, was noch nicht ganz festsaß. Von dort hatte man
das Heft geholt und es Herrn Devrient eilig übergeben, damit
er raschest zu lernen beginne. Herr Devrient konnte natürlich
anfangs bei den Proben nur mittun, wenn er möglichst oft in die Rolle
schaute. Und da konnte man sehen, daß in der unteren rechten Ecke des
blauen Umschlages der Name Ernst Hartmann mit einem dicken
schwarzen Strich durchzogen war... Ein durchstrichener Name. Und
von nun an gibt ein anderer die Rolle, die der Dahingegangene hätte
spielen sollen. Warum sich die Damen des Burgtheaters eigentlich
darob so sonderlich aufregten? Sie haben doch nicht geglaubt, daß sich
solch schmerzliche Neubesetzungen nur beim Theater vollziehen? Jeden
Tag gebt es tausend Rollen, die über Nacht verwaist werden. Der
Name des Besitzers streicht sich von selbst aus, ein anderer Name
schreibt sich hin — und das Leben geht weiter.
Es ist gewiß nicht uninteressant, sich die Figur näher zu be¬
sehen, die Ernst Hartmann zuletzt im Burgtheater hätte gestalten
sollen. Wie oft hatte er dem Dichter gegenüber seine Freude
ausgedrückt, diesen Doktor Aigner spielen zu können. Man
muß nämlich folgendes wissen: Im Burgtheater war schon seit
längere Zeit erzählt werden, der Dichter Artur Schnitzler habe bei der
Schaffung einiger Gestalten seines Dramas an bestimmte Personen
gedacht — an bekannte Persönlichkeiten sogar. Man braucht da nicht
gleich an große historische Erscheinungen zu denken. Zum Beispiel: Ein
Hotelportier kann, wenn das Etablissement, dem er seine Dienste weiht,
stark beiucht ist, leicht eine bekannte Persönlichkeit werden. Und in der
Tat hat — so erzählt man sich — der Portier des Südbahn¬
hotels auf dem Semmering dem Dichter zum Urbild für jenen
„Portier Rosenstock“ gedient, den der Theaterzettel der Novität „Das
weite Land“ als Pfortenfunktionär des „Hotels am Völser Wether“
bezeichnet, wo es, nebenbei gesagt, gar kein Hotel gibt. Gemütliche
Portiers, die mit „ihren" Gästen so gewissermaßen auf wohlwollend
vertrauim Fuße stehen — in unserem freundlichen Oesterreich gibt es
deren gewiß viele. Trotzdem aber erzählte man sich im Burgtheater
der Mann vom Südbahnhotel stecke ganz speziell hinter diesem Rosen¬
stock. Dr. Schnitzler habe oft dort auf dem Semmering gewohnt und
diesen hervorragenden Vertreter des Portierstandes studiert, und der Dar¬
steller des Rosenstock, Herr Thimig, sei sogar in letzter Zeit eigens
auf den Semmering gefahren, dieses Original kennen zu lernen.
Doch nicht von dem auf einmal literarisch gewordenen Portier
wollten wir sprechen, sondern von einer andern, wirklich interessanten
Persönlichkeit, die Artur Schnitzler in seiner Tragikomödie nicht etwa
gachgebildet, deren eigenartige Erscheinung ihm jedoch vorgeschwebt
hai, als er die Figur ausarbeitete und selbstverständlich auch — gewiß
absichtlich — mit fremdartigen Aeußerlichkeiten ausstatiete. Da erzählt
man sich nun, der Holeldirektor oder eigentlich Hotelunternehmer Doltor
o. Aigver, der da in dem Stücke als ein um die Hebung von ganz
Südtirol überaus verdienter Mann hiugestellt wird, sei niemand andeter
als der erst im Jänner dieses Jahres in Meran verstorhene Präsident
des Vereines für Alpenhotels in Tirol Dr. Theodor Christomannos.
Natürlich decken sich Orignal und Kopie nicht in den Details und
niemand darf sagen, der Dichter habe die Absicht gehabt, Dr. Christo¬
mannos, wie er leibte und lebte auf die Szene zu bringen. Aber immer
hin gibt es da schon gewisse Anhaltspunkte, da es sich um eine
um das öffentliche Leben wirklich verdiente und in weiten Kreisen
bekannte Persönlichkeit handelt. Dr. Schnitzler hat es vielleicht
ein bißchen gewollt, daß man an den verstorbenen Dr. Christomannos
denke, bevor Dr. Aigner auf der Bühne erscheint. Denn die Hauptperson
des Stückes kündigt ihn mit einer Biographie an, die sich anbört,
wären die paar Sätze aus der Lebensgeschichte Dr. Christomannos herau
gerissen. Da wird nämlich von dem Manne erzählt:
. Dr. Aigner ist damals gerade von einer Wahlreise zurück¬
gekommen .. . Jeden Tag hat er zwei bis drei Reden gehalten ....
Schon damals war er Präsident im Touristenklub . . . Na, und gar
jetzt als Abgeordneter ... Da redet er nicht nur, er tut auch was
fürs Land. Die neuen Dolomitenstraßen wären ohne ihn nie gebaut
worden. Diese Riesenhotels und die Automobilverbindungen sind eigentlich
alles sein Werk. Und nebstbei hat er in jedem Tiroler Dorf mindestens
ei —
Doch weiter dürsen wir aus dem Stücke nicht zitieren, weil wir
eben dem on dit folgend erzählt haben, wer das Urbild dieses Doktor
v. Aigner sein soll. Oder — eigentlich könnte man rubig auch die
Einzelheiten der Figur mitteilen, da doch der Dichter gewiß kein Photo¬
graph ist und seine Phantasie zum Schweigen verurteilt, sobald er nach
dem Leben schafft.
Jener Dr. Christomannos, dessen Nekrologe die Zeitungen am
letzten Jännertag dieses Jahres brachten, hat sich um seine Mitbürger
in ganz merlwürdig ähnlicher Weise verdient gemacht, wie der Dr. Aigner
Schnitzlers. Er war Landtags=Abgeordneter und, wie schon er¬
wähnt, Präsident des Tiroler Vereins zur Errichtung von Alpenhotels.
„Die großen Hotels in Trafoi, Karasee und Sulden“ — so lesen wir
in den Christomannos=Nekrologen — „waren der Anfang jener gro߬
zügigen Aktion, die seither in Tirol noch eine Anzahl ähnlicher Eta¬
blissements geschaffen hat. Auf Anregung Dr. Christomannos' wurden
Straßen und Wege verbessert. Unter anderen war die Verbesserung des
Mailcoachverkehres durch das Vintschgau und von Landeck und Meran
in das Sulden= und Trafoital auch sein Werk. Auch an der
Förderung des Bahnbaues durch das Vintschgau hat er regen Anteil
genommen und ebenso im Dolomitengebiet für die Hebung des Fremden¬
verkehrs gewirkt. Im Landtage beschäftigte er sich in erster Linie mit
Fragen, die dem Fremdenverkehr und die Verbesserung der Kommunika¬
tionsverhältnisse betreffen.“
Wie man sieht, deckt sich da ziemlich viel. Im Stück fährt
De. v. Aigner gerade nach Wien, um beim Minister wegen eines neuen
Bahnbaues vorzusprechen. Wer diesen hochinteressanten Mann gekannt hat, der
in Wiener literarischen Kreisen viele Freunde zurückließ, wird sich sagen
müssen, der Dichter habe den Charakter mit erstaunlicher Klarheit erfaßt
und wiedergegeben. Dr. Christomannos war eine Erscheinung von einer
geradezu sieghaften Männlichkeit. Daß, wohin immer er kam, Frauen,
die gerne schöne Männer sehen, ihre Auge nach ihm wandten —
braucht's erst gesagt zu werden? Uebrigens hat Dr. Christomannos
seinerzeit in einem Wiener literarischen. Kreise verkehit, der sich im alten,
seither verschwundenen „Winterbierhause“ versammelte. Ludwig Speidel
präsidierte diesem Tisch, voll Anerkennung für den Geist und die Heiterkeit,
die der Meraner Politiker im Gespräch entwickelte. Wie sich's gebührt, lobt
der vortreffliche Mann im ausgezeichneten Andenken seiner Landsleute.
Erst vor einigen Tagen berichteten die Zeitungen, man beabsichtige ihm
in seiner schönen Heimat ein Monument zu setzen. Nun eilt auf einmal
der Dichter dem Bildhauer voran. Meran ist noch ohne Christomannos¬
Denkmal, und der Franzensring hat schon eines! Allerdings
Schminke und Bartwatte, sie lönnen's mit Erz an Dauerhaftigkeit nicht
aufnehmen
Dieser schöne, prächtige Dr. Christomannos war es also, den Ernst
Hartmann hätte spielen sollen. Der Künstler hatte ihn gewiß von
Wien aus gekannt. Und wenn nicht, so konnte ihm so mancher Kollege
vom Burgtheater, der seinerzeit der Speidel=Runde angehört hat, von
dem interessanten Tiroler erzählen.
Die Theatersaison steht nun in voller Blüte. Seit das Johann
Strauß=Theater vorgestern mit Bauer=Oltenheimers „Heimlicher Liebe“
die erste große Operettenpremiere gebracht, hat für die Vorstadtbühnen
der entscheidende Wettkampf um das Publikum begonnen. Wir haben
über diesen so animierten Theaterabend berichtet. Die gute Laune des
Publikums bewährte sich auch während der Zwischenakte: Auch die Zu¬
schauer wurden witzig, oder, wenn sie es schon waren, von der Bühne
aus zu guten Witzen angeregt, wie aus folgender Geschichte zu ersehen:
Zu den treuesten Stammgästen des Johann Strauß-Theaters zählt
der Vorsteher des Bezirkes Wieden, Reichsrats= und Landtags¬
Abgeordneter Rienößl. Er war aus dem Parlament, mo
viel von der drohenden Resistenz der Staatsbeamten gesprochen
worden war, ins Theater gekommen. Im Zwischenalt schreitet
ein Herr auf ihn zu, ein Wähler von Einfluß, seines Zeichens Steuer¬
beamter. Er sagte dem Abgeordneten, die Stimmung in der Beamten¬
schaft sei so erregt, daß es wahrhaftig zur Resistenz kommen könnte.
Doch der also apostrophierte Abgeordnete erschrickt nicht im pindesten.
Im Gegenteil. Schmunzelnd erwidert er:
„Ihr werd's doch nicht glauben, daß das Publiluch revoltieren
wird, wenn sämtliche Steuerbeamtse der Monarchie sofort
streiken!“
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