II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 133

24. Das weite-Land
ische würdig. Auch der liebende Hoteldirektor, der es zwanzig
Jahre ohne Frau und Sohn in der von ihm kultivierten!
die
Alpenwildnis aushölt und bei Engländerinnen, Fran¬
ietet
zösinnen und Spanierinnen Trost im Elend sucht, wird
ihm,
nicht mit seiner Vergangenheit fertig, obgleich er sie sich
und weit genug aus den Augen gerückt hat. Das weite Land
und hat für ihn auch seine reale Bedeutung, und es scheint
Sohn dem Braven zu entgehen, daß es als poetisches Gleichnis
zum ein äußerst dehnbarer Begriff ist und sich mit dem
hist. weiten Herzen oder weiten Gewissen nahezu deckt, das
vor selbst ganz gewöhnliche Menschen von sehr engem
Stirn Horizont ihr eigen nennen.
Und Friedrich Hofreiter, der interessante, die
Die
Welt im kleinen bewegende Mittelpunkt der Tragi¬
eine
komödie? Er weiß wohl, warum er der Seelentheorie
Aigners zustimmt. Doch wäre ihm besser gewesen,
aß er
wenn er, anstatt Hand in Hand mit Erna Wahl,
lem,“
einer entarteten Schwester in Ibsen, den Vajolett¬
hotel¬
oder Aignerturm zu besteigen, ruhig in Baden bei Wien
e aus
geblieben wäre und sich redlich mit Genia und Adele
fallen
von Liebe genährt hätte. Erna wäre ihm wohl auc
n im
daheim als früh faule Frucht vom Baume de#
uns!
Erkenntnis in den Schoß gefallen, da sie, nebst Mutter
und Bruder, gleich dem Husarenleutnant und Marine¬
ndern
fähnrich zu den Tennisgästen seines wunderhübschen
ng in
Landhauses gehört. Welche Gärung des Gemüts trio
ung ist
ihn plötzlich aus den vielen Armen die dem angegraute
unwiderstehlichen Tennissieger offenstehen, in die
Dolomiten? Das ist nicht so leicht zu ermitteln. Wenn
aus¬
wir ihm glauben dürfen, und er selbst, der Sophit,
irektor
Ironiker und Lügner, warnt uns, es zu tun, so wer
rt ihm
die extemporierte kurze Reise nicht nur das Präludim
zu der langen Amerikafahrt, für die er sich rüstt,
Ihre
en Sie sondern eine Flucht vor den Gespenstern seier
Merk= reizenden Badnier Sommerfrische. Seine eigene Ii
box 28/4
R
—.—
ist ihm unheimlich geworden, seit sie ihm den letzten in die Badner Villa einlädt, mit den anzüglichen
Brief eines jungen russischen Pianisten, der sich aus Worten: „Wir haben ein schönes Fremdenzimmer. Ja.
unerhörter Liebe zu Genia erschoß, zu lesen gegeben Ein sehr gemütliches. In dem nur manchmal die
hat. Er kann es nicht begreifen, daß sich jemand aus Geister von verstorbenen Freunden erscheinen, die
Liebe umbringt, und findet es unverzeihlich, daß früher dort übernachtet haben. Das geniert Sie doch
Genia den liebenswürdigen Chopin= und Schumann=nicht?“ — so drängt sich einem die Lösung des psycho¬
spieler durch ihre grausame Tugend in den Tod gejagi logischen Charakterproblems förmlich auf: Hofreiter,
hat. Lieber hätte sie ihn erhören sollen. Er sagt es
ein heimlicher Othello, der seine Frau, ganz wie Natter
ihr nicht geradezu, gibt es aber doch zu verstehen, daß
und Aigner, abgöttisch liebt, bringt alle Hausfreunde
ihm ein Ehebruch der Frau angenehmer gewesen wäre
aus wahnsinniger Eifersucht in einer Art von Duell¬
als der Selbstmord des Hausfreundes.
spiel um, bei welchem er die Chancen auf seiner Seite
Das ist ein so ungeheuerlicher Zynismus, daß
hat, weil er der Klügere, Berechnendere, Gewandtere
wir uns sträuben, ihn einzuräumen. Wir suchen nach
und Geübtere ist. Da zuletzt der beleidigte Ehegatte
andern Beweggründen, und die „Kompliziertheit des
seinen Gegner auf dem Tennisplatze besiegt und am
Subjekts“ stellt uns mehrere für einen zur Wahl.
nächsten Morgen auf der Mensur niederknallt, worauf
Vielleicht ist das von Natter ausgesprengte Ge¬
er heimkommend der ahnungslosen Mutter des Ge¬
rücht, Korsakow sei als Opfer eines amerikanischen
töteten die Hand zum Gruße reicht und ihr einen ver¬
Duells gefallen, bei welchem statt der schwarzen und
gnügten Tag wünscht, so verstärkt sich die Wahr¬
weißen Kugel die zwei weißen und die rote Billard¬
scheinlichkeit beinahe zur Gewißheit, zu der Gewißheit,
kugel entschieden, gar nicht so unsinnig, wie es der darob
daß Schnitzler mit seinem Helden einmal ganz andre
so über die Maßen aufgebrachte Hofreiter scheinen
Dinge vorhatte, als ihn zum Repräsentanten einer
lassen möchte. Er hat die verhängnisvolle Partie mit
moralisch verkommenen Gesellschaftsklasse zu machen,
dem Anbeter seiner Frau unmittelbar vor dessen Tode
die in den Großstädten der Gegenwart zeitweise den
gespielt — es könnte eine Karambolage auf Tod und
Ton angibt. Aber wir wollen uns mit der süßen, den
Leben gewesen sein. Man erinnert sich unwillkürlich
kritischen Verstand liebenswürdig in Schlummer
an die Erzählung aus der Vorgeschichte des Stückes,
wiegenden Musik begnügen, die den abwechslungsreichen,
wie Hofreiter mit einem Freunde die Besteigung des
lebendigen Szenen seiner Tragikomödie entströmt. Sie
verhängnisvollen Aigneriurmes unternahm, von der
konnte nur in Wien erklingen, und wenn sie die feinen
nur er lebend wiederkehren sollte. Wer abstürzte,
Empfindungen und Gedanken des Dialogs auf ihren
wäre durch das Gottesurteil seiner Ungeschicklichkeit
Wellen schaukelt, so glauben wir, den Walzer eines
gerichtet worden, und das Weib siel dem Ueberlebenden
Reigens zu hören, der das Leben mit dem Tode, die
zu. Und man wird erst recht stutzig bei der mit dem
Jugend mit dem Alter, den leichten Scherz meit dem
Aviso der schwarzen Hund gebrachten Bemerkung
schweren Ernst mit Grazie verbindet.
Ernas, Friedrich (Hofreiter) habe kein Glück mit seinen
Max „Kalbeck.
Freunden. Wenn dann der Fabrikant den Hoteldirektor