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W E
24
Land
Tägliche Rondschad, Seina
15,097.1911
vom:
aus dem Kunstleben.
Lessing-Cheater.
Arthur Schnitzler: „Das weite Land“.
Ein sehr richtiger Titel für ein sehr schwaches Stück: „Das
woite Land“. Arthur Schnitzler hat sich in ein allzu weites Land
der Möglichkeiten begeben und dorten an verschiedenen Punkten
Fähnlein gesteckt oder leichtes Gezelte errichtet, statt auf einem
einzigen Fleck der mütterlichen Erde ein festes Haus zu er¬
bauen.
Fünf lange, lange Akte und eine Menge Menschen werden
aufgeboten, um diese neue „Tragikomödie“ zu vollbringen. Aber
es kann keine lebendige Tragikomödie zustande kommen, weil
der Grundgedanke, oder sagen wir: das Grundempfinden des
Dichters überhaupt kein Drama entstehen läßt.
Im Anfang endlos exponierendes Gerede ohne Klärung,
just als sollte die Bühne einer Belastungprobe unterzogen
werden: wie viel Langeweile zu ertragen sie wohl imstande
sei. Mittels zweier Akte hat man solchermaßen ein unglück¬
selig unverständliches Eheweib (auf das Irene Triesch ver¬
geblich ihre psychologische Kunst verwandte), einen ledernen
Fahnrich, einen hölzernen Arzt, eine resignierte Ehebrecherin,
eine unternehmende höhere Tochter und namentlich einen über¬
reifen Lebemann nebst allerlei Episodensippschaft — nicht
40. Lnisetr 1011 — A. 100
näher kennen gelernt. Nun kommt ein Akt Hochtouristen¬
schwank mit einer sonderbar schamfreien Attacke der merk¬
würdig ernstgenommenen höheren Tochter auf besagten ver¬
heirateten Lebemann. In der dritten Pause geschehen über¬
raschende und verhältnismäßig wesentliche Dinge: das unglück¬
selig=unverständliche Eheweib läßt sich von dem ledernen Fähn¬
rich erobern, der Lebemann dagegen flieht vor der unter¬
nehmenden höheren Tochter — wobei leider nichts davon gesagt
wird, daß schamfrei gewordene Unternehmunglust von seiten
des immer noch zarteren Geschlechtes durchaus an sich geeignet
ist, auch ergrauende Lebehelden in die Flucht zu schlagen. Ganz
gegen seine ausführlichen Reden nimmt der Lebemann im
vierten Akt den Fehltritt seiner Frau, obwohl er sie wirklich
nicht mehr zu lieben scheint, plötzlich ernst, schießt in der vierten
Pause den Fähnrich tot und behauptet im fünften Akt steif und
fest, er werde in die Ferne ziehen und hinfort immerdar ein¬
sam bleiben..
Die Inkonsequenzen, oder um es deutscher und weiter¬
reichend auszudrücken: die Ungereimtheiten dieses langen und
breiten Spiels sind zum großen Teil vom Dichter bewußt ver¬
übt worden. Allein dies entlastet höchstens den Intellektuellen
Schnitzler, den Gesellschaftphilosophisten, nicht den Dramatiker
gleichen Namens. Seine nicht mehr unbekannte Reifeweis¬
heit, daß die Seele ein weites Land sei, und daß wir vor
allem in Dingen der Liebe, aber auch sonst weder für unsere
Treue noch für unsere Untreue gutsagen könnten, kurz: daß
wir allesamt egoistische Nervenbündel mit unberechenbaren
Funktionen seien — diese nihilistisch=sentimentale Scheinphilo¬
sophie vernichtet den Heldenwillen und damit alle Tragik. Und
wo sie ihre Selbstverkündigung zum letzten Ziel des Kunst¬
werks machen möchte, muß sie notwendig auch alles sonstige
dramatische Leben im Keim ersticken. Daß ein so nachdenk¬
licher Kopf wie Schnitzler das nicht einsieht! Daß er nicht die
naheliegende Folgerung zieht: auch die Kunst sei dann ein
Nichts, und auch das Drama eine Fable convenue!
Aber vermutlich denkt er, es ginge auch so — und es
genüge, daß das Theater etwas einigermaßen Wirkliches sei?
Die Erfahrung mit seinem neuesten Werk wird diese
Meinung nicht verstärken können. Direktor Brahm konnte
zwar zum Schluß für den Verfasser danken, aber das gewiß
wohlgesinnte Publikum gab im Verlauf des Abends erheblich mehr
Langeweile und Mißvergnügen als Freude zu erkennen. Eine Reihe
hübscher Aphorismen und Witze wurde gern belächelt. Jedoch
das Ganze, dieses völlig romanartige Nebeneinander von
Schauspiel, Schwank, Novellen und Sentenzensammlung ver¬
mochte sich nicht durchzusetzen. Die Darstellung interessierte
durchweg mehr als die „Tragikomödie“. Heinz Monnard
war als Lebeheld des Abends gleich ausgezeichnet an Liebens¬
würdigkeit wie an treffsicherer Natürlichkeit. Hilde Herte¬
rich gab der höheren Tochter weit mehr Glaubwürdigkeit als
der Dichter. Mit den Nebenrollen (Herr Stieler war als
Liebhaber diesmal nicht recht am Platz) ließ sich schauspielerisch
nicht viel anfangen. Nur Mathilde Sussin und Karl
Forest hatten dankbarere Aufgaben und blieben ihnen nichts
schuldig. Vergeblich waren Kräfte wie Reicher, Marr,
Ilka Grüning auf die Bühne bemüht worden.
Willy Rath.
Ausschnitt ausseitern Hartung'sche Zeitth
Reineberg i. Pr. Zeitn
n. 5 10.197
BI EREE TOTR
Vermischtes.
Schuitles-Poomiere.
r. Berlin, 14. Oktober. Schnitzlers Tragikomödie „Das
weite Land“ die heute wie in Wien, Hamburg und zwölf anderen
Orten im Lessingtheater ihre Erstaufführung erlebte, wurde
erst freundlich, vom dritten Akt ab aber kühl ausgenommen. Nur eine
über alles Lob erhabene Aufführung mit Irene Triesch und
Monard, Emanuel Reicher, Ilka Grüning, der Sussin u.s.w.
rettete den Abend. „Das weite Land“ ist eine Menschenseele mit allen
ihren Rätseln und Widersprüchen.
Wie uns unser Wiener F.=Korresponden, meldet, wurde
Schnitzlers „Das weite Land“ im Burgtheater lebhaft und freund¬
lich aufgenommen.
Stockholm, 14. Oktober. Die Zeitung „Dagens Nyphetery
meldet, der diesjährige Nobelpreis für Literatur wird Max¬
rice Maeterliuck verliehen werden.
Zeitung: Frankfurter Zeitung
Datum:
ien
Uranjjührung von Schnitzlers „Das weite Land“.
h Berlin, 14. Oktbr., 11.40 N. (Priv.=Tel.) Arthur
Schnitzlers Tragikomödie „Das weite Land“ wurde
im Lessingtheater mit Interesse und Anteilnahme
aufgenommen; ohne daß man von einem rechten Erfolge
sprechen könnte. Das weite Land ist die Seele des Mannes,
in der alle Möglichkeiten beieinander sind. Eine jener bruta¬
len Männergestalten steht im Mitterunkt des Stückes. Aus¬
derben Levemannsinstinkien heraus betrügt er seine Frau
mit einer Geliebten nach der andern. Es ist ihm unverständ¬
lich, ja es stößt ihn ab, daß seine Frau einen seiner Kreunde¬
lieber in den Tod gehen läßt, als daß sie ihm willfährig ge¬
wesen wäre. Und als seine Frau dann doch mit einem an¬
dern die Ehe bricht, fordert er den Liebhaber und knallt ihn
kaltblütig nieder.
Das Drama setzt mit feinster Seelenmalerei stimmungs¬
kräftig ein, der dritte Akt aber ergeht sich in Nebensächlich¬
keiten. Die beiden Schlußakte weisen jene kalie psychologische
Rechenkunst auf, der Schnitzler leicht verfällt. Man kann
sagen: Aus seelischer Psychologie wird psychologisches Theater.
Die Aufführung des Lessingtheater krankte daran, daß
Herr Monnard die Hauptgestalt mit groben Mitteln etwas
sehr absichtlich und unfein gab: sie war im übrigen fein ab¬
grau Triesch, Frl. Herte¬
gekönt und könstlerisch.
rich, die Herren Reicher Marr und Stieler boten
erlesene Leistungen.
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Land
Tägliche Rondschad, Seina
15,097.1911
vom:
aus dem Kunstleben.
Lessing-Cheater.
Arthur Schnitzler: „Das weite Land“.
Ein sehr richtiger Titel für ein sehr schwaches Stück: „Das
woite Land“. Arthur Schnitzler hat sich in ein allzu weites Land
der Möglichkeiten begeben und dorten an verschiedenen Punkten
Fähnlein gesteckt oder leichtes Gezelte errichtet, statt auf einem
einzigen Fleck der mütterlichen Erde ein festes Haus zu er¬
bauen.
Fünf lange, lange Akte und eine Menge Menschen werden
aufgeboten, um diese neue „Tragikomödie“ zu vollbringen. Aber
es kann keine lebendige Tragikomödie zustande kommen, weil
der Grundgedanke, oder sagen wir: das Grundempfinden des
Dichters überhaupt kein Drama entstehen läßt.
Im Anfang endlos exponierendes Gerede ohne Klärung,
just als sollte die Bühne einer Belastungprobe unterzogen
werden: wie viel Langeweile zu ertragen sie wohl imstande
sei. Mittels zweier Akte hat man solchermaßen ein unglück¬
selig unverständliches Eheweib (auf das Irene Triesch ver¬
geblich ihre psychologische Kunst verwandte), einen ledernen
Fahnrich, einen hölzernen Arzt, eine resignierte Ehebrecherin,
eine unternehmende höhere Tochter und namentlich einen über¬
reifen Lebemann nebst allerlei Episodensippschaft — nicht
40. Lnisetr 1011 — A. 100
näher kennen gelernt. Nun kommt ein Akt Hochtouristen¬
schwank mit einer sonderbar schamfreien Attacke der merk¬
würdig ernstgenommenen höheren Tochter auf besagten ver¬
heirateten Lebemann. In der dritten Pause geschehen über¬
raschende und verhältnismäßig wesentliche Dinge: das unglück¬
selig=unverständliche Eheweib läßt sich von dem ledernen Fähn¬
rich erobern, der Lebemann dagegen flieht vor der unter¬
nehmenden höheren Tochter — wobei leider nichts davon gesagt
wird, daß schamfrei gewordene Unternehmunglust von seiten
des immer noch zarteren Geschlechtes durchaus an sich geeignet
ist, auch ergrauende Lebehelden in die Flucht zu schlagen. Ganz
gegen seine ausführlichen Reden nimmt der Lebemann im
vierten Akt den Fehltritt seiner Frau, obwohl er sie wirklich
nicht mehr zu lieben scheint, plötzlich ernst, schießt in der vierten
Pause den Fähnrich tot und behauptet im fünften Akt steif und
fest, er werde in die Ferne ziehen und hinfort immerdar ein¬
sam bleiben..
Die Inkonsequenzen, oder um es deutscher und weiter¬
reichend auszudrücken: die Ungereimtheiten dieses langen und
breiten Spiels sind zum großen Teil vom Dichter bewußt ver¬
übt worden. Allein dies entlastet höchstens den Intellektuellen
Schnitzler, den Gesellschaftphilosophisten, nicht den Dramatiker
gleichen Namens. Seine nicht mehr unbekannte Reifeweis¬
heit, daß die Seele ein weites Land sei, und daß wir vor
allem in Dingen der Liebe, aber auch sonst weder für unsere
Treue noch für unsere Untreue gutsagen könnten, kurz: daß
wir allesamt egoistische Nervenbündel mit unberechenbaren
Funktionen seien — diese nihilistisch=sentimentale Scheinphilo¬
sophie vernichtet den Heldenwillen und damit alle Tragik. Und
wo sie ihre Selbstverkündigung zum letzten Ziel des Kunst¬
werks machen möchte, muß sie notwendig auch alles sonstige
dramatische Leben im Keim ersticken. Daß ein so nachdenk¬
licher Kopf wie Schnitzler das nicht einsieht! Daß er nicht die
naheliegende Folgerung zieht: auch die Kunst sei dann ein
Nichts, und auch das Drama eine Fable convenue!
Aber vermutlich denkt er, es ginge auch so — und es
genüge, daß das Theater etwas einigermaßen Wirkliches sei?
Die Erfahrung mit seinem neuesten Werk wird diese
Meinung nicht verstärken können. Direktor Brahm konnte
zwar zum Schluß für den Verfasser danken, aber das gewiß
wohlgesinnte Publikum gab im Verlauf des Abends erheblich mehr
Langeweile und Mißvergnügen als Freude zu erkennen. Eine Reihe
hübscher Aphorismen und Witze wurde gern belächelt. Jedoch
das Ganze, dieses völlig romanartige Nebeneinander von
Schauspiel, Schwank, Novellen und Sentenzensammlung ver¬
mochte sich nicht durchzusetzen. Die Darstellung interessierte
durchweg mehr als die „Tragikomödie“. Heinz Monnard
war als Lebeheld des Abends gleich ausgezeichnet an Liebens¬
würdigkeit wie an treffsicherer Natürlichkeit. Hilde Herte¬
rich gab der höheren Tochter weit mehr Glaubwürdigkeit als
der Dichter. Mit den Nebenrollen (Herr Stieler war als
Liebhaber diesmal nicht recht am Platz) ließ sich schauspielerisch
nicht viel anfangen. Nur Mathilde Sussin und Karl
Forest hatten dankbarere Aufgaben und blieben ihnen nichts
schuldig. Vergeblich waren Kräfte wie Reicher, Marr,
Ilka Grüning auf die Bühne bemüht worden.
Willy Rath.
Ausschnitt ausseitern Hartung'sche Zeitth
Reineberg i. Pr. Zeitn
n. 5 10.197
BI EREE TOTR
Vermischtes.
Schuitles-Poomiere.
r. Berlin, 14. Oktober. Schnitzlers Tragikomödie „Das
weite Land“ die heute wie in Wien, Hamburg und zwölf anderen
Orten im Lessingtheater ihre Erstaufführung erlebte, wurde
erst freundlich, vom dritten Akt ab aber kühl ausgenommen. Nur eine
über alles Lob erhabene Aufführung mit Irene Triesch und
Monard, Emanuel Reicher, Ilka Grüning, der Sussin u.s.w.
rettete den Abend. „Das weite Land“ ist eine Menschenseele mit allen
ihren Rätseln und Widersprüchen.
Wie uns unser Wiener F.=Korresponden, meldet, wurde
Schnitzlers „Das weite Land“ im Burgtheater lebhaft und freund¬
lich aufgenommen.
Stockholm, 14. Oktober. Die Zeitung „Dagens Nyphetery
meldet, der diesjährige Nobelpreis für Literatur wird Max¬
rice Maeterliuck verliehen werden.
Zeitung: Frankfurter Zeitung
Datum:
ien
Uranjjührung von Schnitzlers „Das weite Land“.
h Berlin, 14. Oktbr., 11.40 N. (Priv.=Tel.) Arthur
Schnitzlers Tragikomödie „Das weite Land“ wurde
im Lessingtheater mit Interesse und Anteilnahme
aufgenommen; ohne daß man von einem rechten Erfolge
sprechen könnte. Das weite Land ist die Seele des Mannes,
in der alle Möglichkeiten beieinander sind. Eine jener bruta¬
len Männergestalten steht im Mitterunkt des Stückes. Aus¬
derben Levemannsinstinkien heraus betrügt er seine Frau
mit einer Geliebten nach der andern. Es ist ihm unverständ¬
lich, ja es stößt ihn ab, daß seine Frau einen seiner Kreunde¬
lieber in den Tod gehen läßt, als daß sie ihm willfährig ge¬
wesen wäre. Und als seine Frau dann doch mit einem an¬
dern die Ehe bricht, fordert er den Liebhaber und knallt ihn
kaltblütig nieder.
Das Drama setzt mit feinster Seelenmalerei stimmungs¬
kräftig ein, der dritte Akt aber ergeht sich in Nebensächlich¬
keiten. Die beiden Schlußakte weisen jene kalie psychologische
Rechenkunst auf, der Schnitzler leicht verfällt. Man kann
sagen: Aus seelischer Psychologie wird psychologisches Theater.
Die Aufführung des Lessingtheater krankte daran, daß
Herr Monnard die Hauptgestalt mit groben Mitteln etwas
sehr absichtlich und unfein gab: sie war im übrigen fein ab¬
grau Triesch, Frl. Herte¬
gekönt und könstlerisch.
rich, die Herren Reicher Marr und Stieler boten
erlesene Leistungen.